Das Pathos der Freiheit

Eine gute Gesellschaft wäre eine, die allen Menschen die Freiheit gibt, ihre Lebensprojekte zu verwirklichen. Ein Beitrag für das Philosophie-Journal AGORA 42 

Freiheit, das ist ein Wort, das sofort einen pathetischen Beiklang gewinnt. Das Freiheitsstreben der Menschen ist vielleicht die mächtigste Kraft der Geschichte. Wenn Bürger in gemeinsam genützter Freiheit ein Gemeinwesen aufbauten, sind das die erhabensten Momente gewesen. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“, formulierte Hannah Arendt autoritativ. Und auch heute werden wir immer wieder Zeugen dieses Freiheitsdranges, auch als Zuseher zieht uns das in seinen Sog. Die große Freiheitsparty am Tahrir-Platz, dem „Freiheitsplatz“ im Herzen Kairos, fegte gerade eine Despotie weg, wie zuvor schon in Tunesien. Wir sind ergriffen von diesem Freiheitsfrühling, so wie wir es von den Umstürzen im Zeichen der Freiheit im Osten Europas 1989 waren.

Wir sind gefesselt von all dem.

Wir Bürger demokratischer, freiheitlicher Gemeinwesen des Westens beobachten das mit einer Bewunderung, die sich nicht alleine aus unserer Hochachtung vor Menschen erklärt, die mutig und oft unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit eintreten. In diese Bewunderung mischt sich oft auch ein bisschen Neid auf die Energie, die hier zum Ausdruck kommt, und von der wir das instinktive Gefühl haben, uns wäre sie abhanden gekommen. So in dem Sinn: Mit der Verwirklichung der Freiheit schwinden die Energien, die sie erst ermöglicht haben. Denn gewiss: Wir genießen alle Freiheiten. So viele Freiheiten: Meinungs- und Pressefreiheit sind verwirklicht, freiheitliche Verfassungen regeln das Funktionieren unserer Institutionen, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Religionsfreiheit und natürlich die Wirtschaftsfreiheit. So dass mit den vielen Freiheiten die Freiheit – die im Singular, die pathetische – irgendwie verloren gegangen scheint. Wir können es da mit dem Spötter Nestroy halten, der in seiner „Freiheit im Krähwinkel“ schrieb, dass die Freiheit und das Recht nur in der einfachen Zahl unendlich groß seien, weshalb man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben habe.

Aber man kann natürlich auch ganz simpel formulieren: Liebreizend ist die Freiheit, solange sie einem vorenthalten wird. Hat man sie, weiß man nicht recht etwas anzufangen mit ihr. Beim Marsch durch die Ebene kriegt auch sie schwielige Füße. 

Als Parole ist Freiheit aus der Mode gekommen bei uns in den vergangenen dreißig Jahren. Natürlich, Datenschützer warnen vor ihren Bedrohungen, Wikileaks und andere Netzaktivisten kämpfen um Informationsfreiheit, aber so richtig gepackt werden wir von solchen Kämpfen nicht mehr. Schleichend hat der Slogan „Freiheit“ auch seine Seiten gewechselt. War sie früher eine Parole emanzipatorischer, meist linker Bewegungen, haben in den vergangenen dreißig Jahren vor allem die Neokonservativen und Neoliberalen die Freiheit vor sich hergetragen. Verengt auf den Begriff der Wirtschaftsfreiheit, der Freiheit des Bürgers, als Wirtschaftsbürger unbehelligt von Regulierungen, Steuergesetzgebungen und Sozialversicherungsgesetzen am Markt agieren zu können – am „freien“ Markt. Unkomisch ist das nicht, war das „Wort“ Freiheit ja nie die zentrale Parole des Konservativismus, der ja „Ordnung“ favorisierte, was nicht selten das Gegenteil von Freiheit meinte. Man könnte deshalb mit Sarkasmus anmerken: Der Konservativismus hat erst die „Freiheit“ auf seine Fahne geschrieben, nachdem andere sie erkämpft haben. Und auch heute steht die hohe Freiheitsrhetorik der Konservativen in einem seltsamen Missverhältnis zu dem moralisch-sittlichen Verbotsjargon, den sie stets und reflexartig anschlagen. So fordern Konservative, dass der Staat nicht in das Leben seiner Bürger eingreifen soll, was ja nur einen Sinn ergibt, wenn man der festen Überzeugung ist, dass niemand das Recht hat, über den Lebensstil eines Menschen zu urteilen, aber gerade Konservative nehmen sich natürlich sehr gerne dieses Recht heraus: Laissez-Faire in lebenskulturellen Fragen ist ihre Sache keineswegs. Konservative lieben die doppelte moralische Buchführung. Sie wollen, wie Daniel Bell schrieb, „einerseits wirtschaftliche Freizügigkeit, andererseits Moralvorschriften“.

Man hat die normalen, einfachen Leute so traktiert mit den Parolen von der „Eigenverantwortung des Einzelnen“ und von Reformen, die mehr Wirtschaftsfreiheit herbeiführen sollten, dass die schon zusammenzucken vor Angst, wenn jemand von Freiheit redet. Die fragen sich dann sofort: Was will mir der jetzt wieder wegnehmen? Will der mir meinen Lohn kürzen oder mir die Rentenerhöhung streichen? 

Weil die Konservativen den Wert der Freiheit gekapert haben, haben die Progressiven ihn irgendwie vergessen. Sie haben deshalb eher auf Gerechtigkeit gesetzt oder Gleichheit. Man hat sich, etwas salopp gesprochen, die Begriffe geteilt: Die einen haben die Freiheit gekriegt, die anderen die Gerechtigkeit. Das ist schon deshalb grotesk, weil ja die Linken, die Progressiven historisch nicht nur jene Kraft waren, die für soziale Gerechtigkeit eingetreten sind, sondern immer auch die mächtige Kraft der Freiheit.

Viele Menschen haben sich leidenschaftlich für die Linke engagiert, weil sie gegen Unterdrückung, Diktatur und undemokratische Machenschaften aufgetreten ist. Das war vor 150 Jahren so, als die frühen Sozialisten in der Revolution von 1848 den Kampf für Freiheitsrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit und demokratische Wahlen führten, ein Kampf, der damals noch von Kaiser- und Königtum niedergeschlagen wurde. Das war so, als die ersten Gewerkschaften das Recht der Arbeiter erkämpften, sich mit ihresgleichen zusammenzuschließen. Das war am Ende des Ersten Weltkrieges so, als in den meisten Ländern Europas die Monarchien stürzten und es oft die Anführer der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien waren, die demokratische Republiken ausriefen, in denen das freie und gleiche Wahlrecht garantiert war. Das war in den dreißiger Jahren so, als es vor allem die progressiven Kräfte waren, die sich gegen den Aufstieg des Faschismus auflehnten und, wie etwa im spanischen Bürgerkrieg, beherzt für die Freiheit kämpften. Das war in den sechziger Jahren in den USA so, als die Bürgerrechtsbewegung ihren Kampf gegen die rassistische Diskriminierung der Schwarzen führte.

Aber dass sich die Linken um die Freiheit nicht mehr so recht kümmerten und sich primär der Gerechtigkeit annahmen ist auch deshalb grotesk, weil die Gleichheit nicht der Antipode der Freiheit ist, sondern ihr Zwilling. Die vielbeschworene „Optionen- und Risikogesellschaft“ bedeutet in der Realität: Optionen für die Einen, Risiko für die anderen. „Freiheit“ unter den Bedingungen von grober Ungleichheit heißt Freiheit für die Begüterten, aber Optionenmangel für die Unterprivilegierten. Dass eine egalitäre Gesellschaft nur auf Kosten der „Freiheit“ zu haben ist, ist vielleicht die allergrößte Lüge der neuen Konservativen. Gleichheit heißt nämlich, dass alle die „Freiheit“ haben, aus ihrem Leben etwas zu machen. Und Ungleichheit hat freiheitseinschränkende Wirkungen für die Unbegüterten, weil eklatanter materieller Mangel mit eklatantem Mangel an Optionen einher geht. Gleiche Lebenschancen geben allen Menschen die Freiheit, aus ihrem Leben etwas zu machen.

Aber es ist auch etwas Kompliziertes mit der Freiheit, weshalb ihre Siegeszüge uns nicht immer froh machen. Die Unfreiheit, gegen die Menschen in den vergangenen 150 Jahren immer wieder rebellierten, war ja nicht nur obrigkeitliche Repression, die manifeste, in Gesetze gegossene oder durch behördliche Willkür entfesselte Unfreiheit, sondern auch jene Unfreiheit, die die Konventionen, der Konformismus oktroyierten. Gegen diese Unfreiheit, die Konventionen, den gesellschaftlichen Druck von Spießertum und des bloßen Üblichen, des bloßen „das macht man eben so“, des „das gehört sich so“, rebellierten Bohemiens, Halbstarke, Hippies, Aussteiger, Punks. Man hatte da so ein Bild im Kopf: Das der uniformierten, formatierten Gesellschaft der Ähnlichen, die in Reihenhäusern wohnen, Mama hat Lockenwickler auf den Kopf, Papa ist sehr darauf bedacht, dass die Nachbarn nicht schief schauen, und alle haben die gleichen Gardinen vor den Fenstern. Dagegen war man. Und dachte, wenn man Sub- und Gegenkulturen etablierte, wäre das ein widerständiger Freiheitsakt. Und das war ja auch nicht ganz falsch. Aber gleichzeitig waren diese Gegenkulturen Motor der Modernisierung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften in immer mehr nebeneinander her lebender Peer-Groups und bald waren für all diese Subkulturen – die man irgendwann begann, „Zielgruppen“ zu nennen – extra zurechtgeschnittene Waren am Markt, die es ihnen erlaubten, sich lifestylemäßig von einander zu unterscheiden. Das machte das Leben bunter, aber ein eminenter Befreiungsakt war es nicht wirklich.

Und kommen wir nun noch zur politischen Freiheit. Das Fehlurteil der Obrigkeiten früherer Zeiten bestand ja schließlich darin, zu glauben, dass man Staatsbürger, sofern man ihnen elementare politische Rechte zugesteht, nicht mehr so einfach regieren könne. Dass sie die Freiheiten, die ihnen gewährt würden, selbstbewusst in die Hand nehmen würden und stetig aufbegehren, ja sich selbst regieren würden. Dass es um die alten Obrigkeiten dann schnell geschehen sein würde. Aber über die Jahrhunderte und Jahrzehnte hin etablierte sich ein neues politisches System mit neuen Eliten, der sogenannten „professionellen Politik“. Mit ihren Parteien und Institutionen, die einmal lebendig waren, aber aus denen jedes Leben gewichen ist. Zeitungen, sobald die Pressefreiheit verwirklicht war, entwickelten sich zu normalen Geschäftszweigen, die ihr Publikum unterhalten wollen. Und dieses Publikum hörte mehr und mehr auf, sich für diese „professionelle Politik“ zu interessieren. Nicht, dass dieses Publikum seiner Freiheit beraubt wäre. Alle vier Jahre darf es wählen. Es schleppt sich ohne viel Elan an die Urnen. Es entwickelt eine Haltung der Indifferenz und des Desinteresses, das nicht selten umschlägt in stillen Verdruss und Aggression. Es sind hier durchaus widersprüchliche Prozesse am Werk. Einfache, objektive Prozesse der Entkoppelung eines professionellen, institutionellen Systems von normalen Bürgern. Aber auch die Absicht von politischen Eliten, weitgehend ungestört von äußeren Einflüssen zu regieren, ohne dass man dafür grundlegende demokratische Rechte und Freiheiten kappen müsste. Zudem die Interessen mächtiger Einflussgruppen, Lobbys etwa, die wissen, dass sie nur dann einen überproportionalen Einfluss auf den politischen Prozess haben, wenn die Bürger den Einfluss, den sie an sich haben könnten, nicht geltend machen. All das führt zu einer Freiheit, die theoretisch gegeben, aber praktisch nicht belebt ist.

Ist unsere Freiheit durch all das bedroht? Nun, die „negative Freiheit“, die Freiheit von Drangsalierung, von Verfolgung, von Unterdrückung – nicht wirklich. Aber die positive Freiheit? Wissen wir überhaupt noch, was das ist oder sein könnte? Die Freiheit einer selbstbewussten Bürgerschaft, die mit Ernst und entschieden ihre eigenen Dinge in die Hand nimmt? Die Freiheit einer energetischen Jugend, die das Alte niederreißt und gegen immaterielle und manchmal auch reale Barrikaden anrennt? Die Freiheit widerspenstiger Geister, die nicht einfach so regiert werden wollen?

Man könnte aus all dem Gesagten nun den Schluss ziehen, dass die „Freiheit“ und deren Gefährdungen heute nicht unser Problem ist, sondern eher andere gesellschaftliche Pathologien: das Wachstum der Ungleichheit, die Kommerzialisierung, die determinierende Macht des Ökonomischen, die Abkoppelung des Systems „Politik“ von den Bürgern. Aber all diese Prozesse, die von vielen Menschen wohl als Fehlentwicklungen beurteilt würden, haben freiheitseinschränkende Wirkungen. Und umgekehrt: Sie zu korrigieren, sich über sie zu empören ist ein Freiheitsakt. Ja, Versuche, sie zu korrigieren, werden nur Erfolg haben, wenn sie den Schwung genuiner Freiheitsbewegungen hinter sich haben. Nehmen wir nur den Wert der „Gleichheit“ – natürlich werden viele Menschen intuitiv dafür plädieren, dass alle Menschen gleich viel wert und krasse Ungleichheiten deshalb moralisch fragwürdig sind. Aber das stärkste Argument für egalitäre Reformen ist, wie das der große schwedische Sozialist Olof Palme einst ausdrückte, „die Hindernisse für die freie Entwicklung des Menschen wegzuräumen und ihm eine Chance zu geben, seine Persönlichkeit zu entwickeln“. Das Ziel einer auf Gleichheit basierenden Freiheit ist noch lange nicht realisiert, ja, von diesem Ziel bewegten wir uns in den vergangenen Jahrzehnten eher weg.

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