Marx ohne -ismus

Vergangenes Wochenende war ich ja beim großen Kongress „Rethinking Marx“ in Berlin, wo ich das Ökonomiepanel moderierte. Gastautorin Margarete Stokowski beschreibt, was sich so getan hat auf dem Kongress, der sichtete, was an den Theorien von Grand Old Rauschebart noch aktuell sein könnte – jenseits allem „orthodoxen Marxismus'“.

Der Bart muss weg. Der graue, dicke Rauschebart, der von Karl Marx lange Zeit nicht wegzudenken war – am vergangenen Wochenende wurde er an der Humboldt-Universität in Berlin gründlich durchgekämmt, frisiert und gestutzt. „Es gibt heute ein neues Bild von Karl Marx und viele ganz unterschiedliche Blickrichtungen auf sein Werk. Man muss gar nicht mehr unbedingt Marxistin sein, um sich mit dem Werk von Karl Marx zu beschäftigen“, sagt Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie.
Gemeinsam mit ihrem Kollegen Daniel Loick von der Frankfurter Goethe-Universität hat Rahel Jaeggi an der Humboldt-Universität vom 20. bis 22. Mai die Konferenz „Re-Thinking Marx“ veranstaltet: drei Tage volles Programm, 44 Vorträge von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Trias von Philosophie, Kritik und Praxis. Rund 1.700 Teilnehmende diskutierten hier mit so prominenten Rednerinnen und Rednern wie den Philosophen Etienne Balibar und Axel Honneth, der Soziologin Saskia Sassen, dem Historiker Moishe Postone und der feministischen Theoretikerin Rosemary Hennessy.
Daniel Loick betont die neue, undogmatische Herangehensweise an Marx: „Wir sehen heute, dass man Marx auch mit einer Unbefangenheit lesen kann, die überhaupt erst den inhaltlichen Pluralismus in seinem Werk erkennen lässt.“ Bewusst wurden zu der Konferenz ganz verschiedene Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen und Traditionen eingeladen – auch solche, die normalerweise nicht zu Marx arbeiten, sowie solche, die zwar durchaus über Marx schreiben, aber mit bestimmten Fachkreisen seit Jahrzehnten nicht mehr im Dialog über Marx standen: „Es ist spannend zu sehen, wie ganz unerwartete Mischungen der Fachdiskussionen entstehen. Heute sprechen analytische Marxisten mit feministischen Materialistinnen, Vertreter der kritischen Theorie mit Poststrukturalistinnen und Rechtstheoretiker mit Globalisierungsforscherinnen“, sagt Daniel Loick.

Tatsächlich ist die aktuelle Marx-Rezeption von einer Vielseitigkeit geprägt, die allein schon durch die Unterschiedlichkeit der methodischen und systematischen Ansätze die Rede vom „orthodoxen Marxismus“ oder „dem einen Marxismus“ längst abgehängt hat. Klassische Themen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Kapitalismus- und Ideologiekritik, aber auch die aktuelle Diskussion über Geschlechterverhältnisse, Migration und Postkolonialismus lassen sich mit Marx neu bearbeiten. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen jedoch das Ziel, das Marx selbst in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ formulierte: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385).

Andrew Chitty, der Philosophie in Sussex lehrt, betont die enge Verknüpfung von Freiheit und Gemeinschaft bei Marx: In der Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft ist der Andere nicht mehr die Grenze der Entfaltung meiner selbst, sondern ihre Verwirklichung: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW 4, 482) Frederick Neuhouser von der Columbia University glaubt allerdings, dass Marx von seinem Lehrer Hegel noch einiges über die Theorie der Freiheit hätte dazulernen können: In Marx‘ Werk, so Neuhouser, ist kein Platz für eine spezifische Art der Freiheit, die die moderne bürgerliche Gesellschaft realisieren will. Das heißt, Marx‘ System stellt im Gegensatz zu Hegel keinen gesellschaftlich geschützten Raum zur Verfügung, in dem Individuen frei ihren Zielen nachgehen können, einfach weil sie es so wollen. Sollten wir also Hegel, den Marx und Engels doch so mühsam „vom Kopf wieder auf die Füße“ (MEW 21, 293) stellten, wieder zurück auf den Kopf stellen? Als dialektisch ausgetüftelte Zwischenposition ergibt sich dabei vermutlich eher eine komplizierte Yogahaltung – aber schließlich geht es um nichts weniger als die Sozialität der Freiheit und die Frage nach einer gelingenden gesellschaftlichen Lebensform.

Apropos Yoga. Gleich zu Beginn der Konferenz widmet sich die Politikwissenschaftlern Wendy Brown aus Berkeley den höheren Sphären und spricht über vergessene sakrale Momente im „Kapital“: Marx als strikten Feind der Religion zu lesen ist laut Brown genauso falsch, wie ihn als einen messianischen Denker zu sehen, dessen Himmelreich der Kommunismus ist. Brown will mit ihrem Rückgriff auf Marx den theoretischen Ballast der Säkularisierungs- und Religionsdebatten ordnen und die internen Zusammenhänge zwischen Religiosität und Kapitalismus neu verstehen.

Axel Honneth, Professor für Sozialphilosophie und Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, versucht sogar eine Korrektur der Marxschen Ökonomiekritik: Honneth fragt, ob Marx nicht viel stärker hätte sehen müssen, wie wirtschaftliche Akteure immer auch moralische Entscheidungen treffen. Müssten ökonomische Grundbegriffe nicht immer auch auf soziale Kämpfe und normative Konflikte bezogen werden? Dürfen Fragen der Moral getrennt von Fragen des Kapitals bearbeitet werden? Nein, sagt zum Beispiel auch Russell Keat, Professor für politische Theorie in Edinburgh: Ein vermeintlicher Neutralismus in Bezug auf ökonomische Institutionen ist verheerend. Marx‘ ethische, moralische und ökonomische Kritik am Kapitalismus sind daher nur in Bezug aufeinander denkbar: Wir müssen fragen, wie die normativen und funktionalen Probleme im Kapitalismus miteinander zusammenhängen und warum man den Kapitalismus daher auf ganz spezifische Weise kritisieren kann – und nicht etwa bloß die industrielle Arbeitsteilung oder die Ausbeutung durch Unternehmer oder Fabrikbesitzer jeweils für sich.

Es muss aber natürlich noch mehr Aufwand betrieben werden, um die Ideen von Marx, der immerhin seit 128 Jahren tot ist, auf den modernen Kapitalismus – oder eher: die Vielzahl der bestehenden Kapitalismen – anzuwenden. „Ich bin natürlich nicht der Meinung, dass Marx schon vor 150 Jahren die richtige Theorie entwickelt hat, die man jetzt nur noch aus der Tasche ziehen muss“, sagt auch Rahel Jaeggi.  Der „neue Geist“ (Boltanski & Chiapello) erklärt sich nicht von selbst. Und wenn eine Kapitalismuskritik so gestrickt ist, dass sie vom kritisierten System quasi geschluckt und verarbeitet werden kann und es damit nur noch fetter und träger wird, dann muss man offenbar schwereres theoretisches Gerät auffahren. So müssen durchaus auch neueste Forschungsergebnisse in die neue Marx-Debatte einfließen, etwa von Seiten der Behavioral Economics oder im Rückgriff auf John Maynard Keynes, der übrigens passenderweise wenige Wochen nach Marx‘ Tod geboren wurde.

Eine aktualisierte Marx-Rezeption betreibt unter anderem der Soziologe Hartmut Rosa, der Selbstausbeutung und Unterwerfung in heutigen kapitalistischen Arbeitsverhältnissen untersucht. Im Zuge seiner Beschleunigungsstudien sieht Rosa die ganze Moderne, aber vor allem auch den Kapitalismus, als eine Geschichte der Dynamisierung und Verselbständigung, die heute bisweilen in einer Art rastlosem Leerlauf an sich selbst scheitert. Neue psychologische und sozialphilosophische Erkenntnisse sind für diese Art der Kapitalismuskritik unerlässlich.

Eine Begegnung der ganz besonderen Art ergibt sich, als sich eben bei Hartmut Rosas Vortrag zu „Markt, Krise, Klasse, Ausbeutung“ ein Teilnehmer meldet und sich als „Unternehmer, Steuerzahler und Individuum der Zivilgesellschaft“ vorstellt. Was denn nun die Botschaft dieses ganzen akademischen Geredes sei, fragt der solariumsverbrannte Anzugträger. „Wie schön, dass Sie sich als Klassenfeind dafür interessieren“, sagt Hartmut Rosa. „Die Botschaft liegt eigentlich auf der Hand. Wenn ich mit Unternehmern oder Managern rede, die ganz offenbar in einer extremen Steigerungsspirale gefangen sind, dann tun die mir richtig leid“, erzählt Rosa. „Menschen, die mir sagen, es sei eben die Logik des Geschäfts, dass irgendwann die Ehe an der Arbeitslast zerbricht und dass ein Herzinfarkt eben die notwendige Folge echter Leistung ist – das sind doch wohl die wahren Verlierer des Systems.“ Der Unternehmer nickt, lächelt, mit verschränkten Armen: „Danke, ja, ein bisschen haben Sie natürlich recht. Ein bisschen.“

Auch der Philosoph Michael Quante erforsch aktuelle Arbeitsverhältnisse mit Bezug auf Marx und betont, dass wir mit Marx‘ Begriffen von Verdinglichung und Entfremdung heute besonders gut verstehen können, wie produktive Arbeit jenseits von Fremdbestimmung und Unzufriedenheit möglich wird: „Mit Marx können wir zu einem Konzept von Autonomie gelangen, das ein gelungenes Leben in greifbare Nähe rückt.“ Die Einsicht, dass ein anthropologisch und sozial fundiertes ethisches System mit Marx denkbar ist, stehe heute endlich jenseits der alten Grabenkämpfe. „Vor einiger Zeit musste ich meinen Studierenden noch erklären, dass Marx übrigens gar kein russischer Philosoph war“, sagt Quante.
„Es ist ganz ungewohnt, hier an der Uni so eine lebhafte und intensive Diskussion über Karl Marx zu erleben“, sagt ein Promotionsstudent der Politikwissenschaften. „Dass bei strahlendem Sonnenschein so viele Menschen in teilweise vierstündigen Veranstaltungen zur Ökonomiekritik sitzen – ich hätte es kaum für möglich gehalten. Man kann es nicht anders sagen: Marx ist zurück.“

Liegt nun die Aktualität von Karl Marx lediglich an der Finanzkrise – und wird damit womöglich bald wieder abflauen, wenn auch die öffentliche Diskussion um Börsencrash und Bankenrettung weiter verstummt? „Nein, auf keinen Fall. Es wäre ein Missverständnis der aktuellen Diskussion, sie lediglich auf das Phänomen der Krise zu beziehen“, sagt Rahel Jaeggi. Die heutige breit gefächerte Diskussion schöpfe vielmehr aus langen, innertheoretischen Diskursen, in denen Marx eigentlich immer aktuell gewesen sei. Nun finde aber eine Art Wiedereinbürgerung von Marx in den Kanon der Geistes- und Sozialwissenschaften statt.

Daniel Loick ergänzt: „Aber es stimmt durchaus, dass das Interesse der breiten Öffentlichkeit durch die Krise des Finanzmarktes sicherlich neu geweckt wurde. Auch dass überhaupt wieder der Begriff ‚Kapitalismus‘ gebräuchlich geworden ist, ist gar nicht so selbstverständlich. Langsam wird vielen klar, dass das kapitalistische System nicht unumstößlich ist. Und über diese Erkenntnis freuen wir uns natürlich sehr.“

Margarete Stokowski arbeitet am Lehrstuhl für praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität sowie als freie Autorin für die taz und andere Zeitungen.

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