Das ist doch nicht fair!

Was uns die Griechenland-Krise über die Rolle der Emotionen in der Ökonomie lehrt. Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2011.
Dass die Wirtschaft eine komplexe und komplizierte Angelegenheit ist, das braucht man weder Experten noch Laien zu erklären. Seit den dramatischen Krisentragen des Jahres 2008 werden wir aber im Wochentakt mit komplizierten Fragen konfrontiert. Deren Kompliziertheit besteht nicht nur in der Komplexität der Sache selbst, also der Frage: Was sind in einem solch filigranen System mit seinen vielfachen Rückkopplungen eigentlich die richtigen, die effektiven Lösungen? Wir sehen vielmehr andauernd, dass sich zwei Fragen stellen: Sind die Lösungen effektiv? Und sind sie auch fair? Beziehungsweise, exakter formuliert: Werden sie von den Bürgern auch als fair angesehen? 
Simpel gesagt: Ist es effektiv und funktional im Rahmen dieses filigranen Systems, Investoren ihre privaten Verluste mit dem massiven Einsatz öffentlicher Mittel zu ersparen? Nehmen wir einmal an, die Antwort ist „Ja“, und sei es bloß, weil es die am wenigsten uneffektive Lösung wäre, weil Massenpleite und Dominoeffekt noch „unfunktionaler“ wären. Und stellen wir dann die Frage: Ist es auch fair? Darauf gibt heute beinahe jeder Bürger „Nein“ als Antwort. Was das bedeutet, muss man in seiner ganzen Tragweite erst einmal realisieren: dass nämlich die Lösungen, die am effektivsten sind, vielleicht jene sind, die am wenigsten als „gerecht“ oder „fair“ angesehen werden. Das ist in einer demokratischen Öffentlichkeit keine Kleinigkeit: dann ist es schwer, für die sachlich richtigen Lösungen Legitimität herzustellen, wohingegen es womöglich leichter wäre, jene Lösungen als legitim zu rechtfertigen, die leider den kleinen Nachteil haben, sachlich völlig unpraktikabel zu sein. 

Mit der Griechenland-Krise stellt sich für die Länder der Euro-Zone diese Frage noch etwas dramatischer. Denn effektiv erscheint kaum eine Lösung. Eine Pleite Griechenlands mit den Schneeball-Effekten, die folgen würden, wäre kein allzu praktikables Szenario. Die Lösungen, für die man sich aber entschieden hat, um eine Griechen-Pleite und einen möglichen, folgenden Bankenkrach zu verhindern, sind auch nicht wirklich effektiv. So richtig prima funktioniert die Lösung jedenfalls nicht. Gleichzeitig empfinden es viele Bürger als unfair, dass sie jetzt für die Probleme Griechenlands zahlen dürfen, die sie nicht verursacht haben. Für Europas Populisten erweisen sich diese Widersprüche als Steilvorlage. Ihre Parole „Unser Geld für unsere Leute“ zieht. 
Nun würde man instinktiv dazu neigen, hier verschiedene Funktionslogiken verschiedener Systemsphären anzunehmen: Einerseits das Kriterium „Effektivität“, das die Wirtschaft bestimmt, andererseits das Kriterium „Fairness“, das eher politisch relevant ist. Die Pointe ist freilich, dass das Gefühl, dass etwas fair oder unfair ist, die Effektivität eines ökonomischen Vorganges selbst beeinflusst. Wirtschaftliche Vorgänge können an Effektivität verlieren, gerade weil sie als unfair angesehen werden. Die Gefühle sind selbst Teil der Rückkopplungsschleifen, gerade so wie Kreditausfallshaftungen und Nachfrageausfälle. 
Das gilt im mikroökonomischen genauso wie im makroökonomischen Feld. Gerade in der Schweiz weiß man aufgrund der verhaltensökonomischen Forschungen an der Universität Zürich sehr genau Bescheid, dass Wirtschaftssubjekte – vulgo: Menschen – wirtschaftliche Arrangements torpedieren, selbst dann, wenn sie ihnen kleine Gewinne versprechen, sofern andere große Gewinne lukrieren würden, die sie als unfair ansehen. 
„Hat nicht der Wunsch nach Fairness eine ebenso große Bedeutung wie strikt ökonomische Interessen – oder ist seine Bedeutung gar noch größer?“, fragen die amerikanischen Spitzenökonomen George Akerlof und Robert Shiller in ihrem Buch „Animal Spirits“. Aber eigentlich ist das für sie keine Frage. Natürlich ist das so, lautet die Botschaft ihres Buches. Wenn Menschen sich unfair behandelt fühlen, werden sie sich weniger anstrengen. Sie werden sich mit ihrer Firma nicht identifizieren, sie werden häufiger den Job wechseln. In Gesellschaften, in denen sehr viele Menschen das Gefühl haben, dass ihr Lohn nicht fair ist, wird das Qualifikationsniveau sinken. Und viele, viele andere elementare Aspekte des Wirtschaftslebens sind von Fairness- oder Unfairnessgefühlen bestimmt – etwa die Bereitschaft, ohne Murren Steuern zu bezahlen oder, umgekehrt, die Versuche, Steuerzahlungen zu vermeiden. 
Mehr noch: Das Auf und Ab von Konjunktur und Krise ist selbst nicht unwesentlich von Gefühlen bestimmt, wie wir seit John Meynard Keynes wissen – ein Wissen, das die neue Verhaltensökonomie erneuert und auch systematisiert hat. Wenn die Wirtschaft brummt und die Menschen annehmen, dass es stets weiter bergauf geht, dann wächst die Zuversicht, das Vertrauen – ja, auch die Gewissheit, dass man schnell und ohne Anstrengung reich werden kann. Die Bürger kaufen ein, die Investoren investieren, worauf die Wirtschaft noch mehr brummt. Der Aufschwung ist ein von Gefühlen getriebener Aufschwung. Im Abschwung ist es genau umgekehrt. Die Krise gebiert Krisengefühl, was die Krise wieder verschärft. „Hat der Verfall einmal eingesetzt, ist er nur sehr schwer zu stoppen“, konstatierte Keynes, weshalb er auch im Radio den Aufruf absetzte: „Darum, ihr patriotischen Hausfrauen, brecht gleich morgen früh auf und geht zu den wundervollen Ausverkäufen, die überall angezeigt sind.“
Die Bedeutung, die Emotionen wie Vertrauen, das Gerechtigkeitsgefühl, Zuversicht, Pessimismus und viele andere mehr in der Wirtschaft haben, lehrt uns zweierlei: dass uns eine Ökonomie, die in ihren aseptischen Modellen den Menschen als Störfaktor praktisch ausscheidet, nicht viel zu sagen hat. Und dass in der Politik die technokratische Attitüde, die primär nach sachlich „richtigen“ Entscheidungen sucht, oft an ihren eigenen Zielen scheitern wird. 
Freilich, das macht die komplizierten Sachverhalte nicht gerade einfacher. 

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