Gefühlsgemeinschaft der Unzufriedenen

Finanzkrise. Die Regierenden haben keinen Plan, die Regierten feiern ihre Empörungspartys. Motto: Etwas soll anders werden – irgendetwas. Aber das gemeinsame Gefühl der Unzufriedenheit kann die Politik nicht ersetzen. 

„Empörung“ ist wohl das Wort dieses Frühsommers. Die jungen Spanier, die die Hauptplätze ihrer Städte besetzt haben, nennen sich selbst „Indignados“ („Die Empörten“), ein paar hundert Kilometer weiter nördlich rufen die „Indignés“ von Frankreich: „Paris, wach auf!“. Und in Griechenland halten die „Empörten Bürger“ den Syntagma-Platz besetzt, Gewerkschaften streiken gegen das Sparpaket, und die wilden Demos sind nur Illustration dafür, dass das Land am Rand einer sozialen Explosion steht. 
„Empört Euch!“, die dünne Protestfibel des 93jährigen französischen Resistance-Veteranen Stèphane Hessel hat buchstäblich das Stichwort geliefert für eine Gemengelage aus wütendem Protest, Rebellion oder einfach nur Unbehagen. 
Die Empörung! Sie ist ein sonderbarer politischer Affekt. Der, der sich in rechten Worten zur rechten Zeit empört, kann schon der moralischen Wucht wegen andere mitreißen. Das Charakteristische und Offenkundigste an der Empörung ist, dass sie „Nein“ sagt, ohne sich um die gerne geäußerte Forderung zu bekümmern, dass der, der Schlechtes kritisiert, die Lösung gefälligst mit zu liefern habe – also klarzumachen habe, wie es denn besser ginge. 
Man ist empört, doch die Motive können variieren. „Jede einzelne Person, die an diesem Protest teilnimmt, repräsentiert nur sich selbst und ausschließlich sich selbst“, hieß es im Aufruf der Syntagma-Protestierenden. 
Wogegen wird also protestiert in Griechenland, Spanien, Frankreich? Nun, was Griechenland und Spanien betrifft: Gegen eine Sparpolitik, die die Wirtschaft abwürgt. Gegen brutale Austerität, die glaubt, man könne eine Krise bekämpfen, indem man Leute dazu zwingt, von 500.- Euro zu existieren. Dagegen, dass den jungen Leuten einfach ihre Zukunft gestohlen wird. „Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns“, lautete eine der bemerkenswertesten Parolen der spanischen Protestierenden. Aber man protestiert auch dagegen, dass alles einfach so weiter läuft in einem Finanzsystem, welches uns diese Krise erst eingebrockt hat, und dass die Rettung der Finanzinstitutionen das primäre Ziel des Rettungsgehampels der Politiker ist. Ja, und man protestiert gegen eine Politik, die ganz offensichtlich überfordert ist, die sich eine Parallelwelt etabliert hat, von der sich die meisten Menschen nicht mehr repräsentiert sehen. Man ist empört über all das, irgendwie. 
Nun ist das Gute an solchen Protesten, dass sie das politische System aus der Lethargie reißen können. Dass sie signalisieren: Die Bürger nehmen nicht alles hin. Die Eruption von Wut und Zorn, aber auch die Fröhlichkeit der Party-Stimmung, mit der sie üblicherweise einher geht, waren oft in der Geschichte wichtige Impulse für Veränderungen zum Besseren. 
Aber wie protestiert man dagegen, dass der eigene Staat bankrott ist? Die Proteste erwecken den Eindruck, schrieb ein kritischer Beobachter, als würden sie hoffen, wie auf ein Wunder, „dass etwas, irgendetwas, anders würde“ – ohne auch nur die Spur eine Ahnung zu haben, was genau. Ein Blogger, der sich selbst in der griechischen Bewegung engagiert hatte, formulierte ein paar Tage später etwas ernüchtert: „Man glaubt, dass Änderungen ohne Ideen bewirkt werden können. Aber das Postulat, dass etwas anders würde, nur, indem man Emotionen Ausdruck verleiht, ist letztendlich eine Lüge.“
Gewiss, man weiß in etwa, wie die Lage ist, und man weiß, was nicht funktioniert. Griechenland hat ein Haushaltsdefizit, weil der Staat nicht funktioniert, weil die Regierung nicht einmal in der Lage ist, effektiv Steuern einzunehmen, und weil sich die griechischen Regierungen mit Kreditaufnahme beholfen haben, bis es nicht mehr weiter ging. Griechenland hat zudem ein Leistungsbilanzdefizit, weil seine Wirtschaft in der Euro-Währungsunion von den starken Ökonomien wie Deutschland, Holland, Österreich erdrückt wird. Das macht es wiederum praktisch unmöglich, die Schulden zurückzuzahlen. In Spanien dagegen hat sich nicht die Regierung mit Verschuldung übernommen, sondern der private Bankensektor, der den Immobilienboom mit Krediten befeuerte, bis die Blase platzte – ziemlich genauso lief es auch in Irland. Jetzt sitzt der Staat auf den Schulden, weil er erstens die Banken retten musste, und weil zweitens der Zusammenbruch der Wirtschaft die staatlichen Ausgaben in die Höhe trieb, während die Steuereinnahmen in den Keller fielen. Um Staatspleiten zu verhindern, erhalten diese Länder jetzt nicht mehr über den Kapitalmarkt Kredite, sondern von den anderen europäischen Regierungen (das ist die Crux des europäischen „Rettungsschirms“), dafür müssen sie aber harte Sparprogramme auflegen. Damit kommen sie aber erst recht nicht aus der Krise. 
Dabei sollten gerade die Sparmaßnahmen, folgt man den Doktrinen der wirtschaftliberalen Theorie, das Wirtschaftswachstum anstacheln. Die Reduktion des Defizits sollte „das Vertrauen der Märkte“ stärken, der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben sollte die privatwirtschaftliche unternehmerische Initiative beflügeln. Dies würde dann zu einer Reduktion des allgemeinen Verschuldungsniveaus – von Staat, Banken und Privaten – führen und damit zur wirtschaftlichen Gesundung. Aber das ist natürlich Vodoo-Ökonomie. Das funktioniert schon in normalen Zeiten nicht so, und schon gar nicht in einer Depression. 
Rabiates Sparen würgt die Wirtschaftsleistung noch mehr ab. Auch dieses Jahr wird das griechische Bruttoinlandsprodukt wieder um drei Prozent schrumpfen. Seit Ausbruch der Krise ist die Wirtschaftsleistung um ganze zehn Prozent zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote hat sich verdoppelt und liegt bei 15 Prozent. Ähnlich düster ist die Lage in Portugal. In Spanien liegt die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei beinahe 40 Prozent. 
Woher soll eine Regierung in dieser Situation die Mittel nehmen, die Schulden zurückzuzahlen? Griechenland hat 364 Milliarden Euro Schulden und muss allein für Zinsen dieses Jahr knapp 16 Milliarden Euro aufbringen – fast 30 Prozent der Staatseinnahmen. Und damit ist noch kein Cent an Schulden zurück gezahlt. Der Anteil der Schulden am BIP, die entscheide Referenzzahl, steigt weiter – und zwar nicht, weil die Schulden steigen, sondern weil das BIP fällt. 
Ein paar Milliarden sollen jetzt mit Privatisierungen hereingebracht werden, die eher Notverkäufen gleichen. Noch bevor das Athener Parlament den Regierungsplan zugestimmt hatte, gingen die Verkäufer des Finanzministeriums auf „Road-Show“. Potenten Investoren wollten sie, etwa im noblen Londoner Claridge’s-Hotel, schmackhaft machen, was denn so im Angebot ist: 39 Flughäfen, 850 Häfen, Eisenbahnen, Autobahnen, Casinos, Strände, aber auch die nationale Lottogesellschaft. Alles muss raus. Aber kaum jemand will mitmachen beim großen griechischen Raus-Verkauf. Denn die meisten der Unternehmen werden am Ende dann doch mit Griechen Geschäfte machen müssen – und wenn die normalen Bürger kein Geld haben, die Fähren zu bezahlen oder in die Casinos zu gehen, dann rechnen sich auch die Investitionen nicht. Die 50 Milliarden Euro, die die Regierung aus den Privatisierungen erlösen wollte, werden Wunschdenken bleiben. 
Aber was ist die Lösung? Ein Schuldenschnitt – also, Griechenland erklärt sich zahlungsunfähig und bedient seine Schulden nicht mehr? Dann wären als allererstes die griechischen Banken bankrott und das Land stünde erst recht inmitten eines ökonomischen Kollapses. Und auch andere europäische Banken hätten große Löcher in ihren Büchern klaffen – so große, dass ein Dominoeffekt zu befürchten wäre, wie sie gerne behaupten. Eine Behauptung, die schwer am Reißbrett zu überprüfen ist, aber als Drohkulisse prima wirkt. Weshalb die Regierungen alle
s versuchen, um Zahlungsausfälle zu verhindern. 
Viele lose und dünne Fäden verbinden das Wirtschaftsleben, leicht kann man sich in ihnen verheddern. Und empörende Umstände gibt es genug. Dass Anleger jahrelang „Risikoprämien“ für griechische oder spanische Staatsanleihen einstreiften, aber praktisch schlagend darf das Risiko natürlich nicht werden. Oder ein anderes Exempel: Banken leihen sich zu einem Zinssatz von 1,5 Prozent Geld von der Europäischen Zentralbank, verleihen das Geld dann weiter, etwa an Griechenland, und kassieren 4,8 Prozent. Die Zinsdifferenz streifen sie ein – ohne Risiko, ohne Einsatz eigenen Geldes. Warum kann dann eigentlich nicht gleich die EZB das Geld direkt zum niedrigen Satz an Griechenland verleihen? Dann wäre die Zinsbürde Athens schlagartig geringer, Griechenland wäre die ärgsten Probleme über Nacht los. Und noch so eine schöne Paradoxie der Finanzmarktarchitektur: Die Regierungen retten Banken und Finanzanleger und verschulden sich dafür, aber das Geld leihen ihnen dieselben Banken, die folglich für ihre Rettung auch noch Zinsen kassieren. Was, wenn die Regierungen sich wenigstens bei staatlichen Banken verschulden würden, sodass die Zinsgewinne dann nicht in private Taschen fließen, sondern teilweise zur Verringerung des Defizits genützt werden können? Und, ein besonders bizarres Exempel: Die zentrale Finanzinstitution der Europäischen Union, die EZB, darf griechische Staatsanleihen nicht mehr als Sicherheiten annehmen, wenn etwa Zinsstreckungen ausgehandelt werden, die von Ratingagenturen als „Kreditereignis“ (vulgo: Kreditausfall) gewertet wird. Das heißt im Klartext: Private Ratingfirmen entscheiden darüber, was die EZB darf. Nicht wenige Bürger fragen sich da: Wie verrückt ist das denn? Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein, also, sollten nicht öffentliche Institutionen eher das Verhalten der kommerziellen Unternehmen regulieren?
Nun kann man sich freilich leicht darauf verständigen, dass da etwas fundamental schief läuft. Aber wie genau müsste es laufen, um gerade zu laufen? Eine Antwort darauf könnte nicht schaden. Empörung allein ist noch keine Lösung. 
„Vive la crise!“, so hat das französische Wirtschaftsblatt „Les Echos“ unlängst geschrieben, und damit nicht allein den abgedroschenen Allgemeinplatz repetiert, dass jede Krise eine Chance ist. Aber die Krise könnte ein Ansporn für Politiker sein, ein paar Dinge fundamental zu verändern. „Euroland wird nicht überleben, wenn man nur auf Sparhaushalte setzt. Die Griechen müssen finanziell so unterstützt werden, dass ihre Wirtschaft wieder wächst. Dazu bedarf es eines gemeinsamen europäischen Haushalts, der um einiges größer ist als zurzeit.“ Das ist sicher Teil der Antwort. Ein weiterer Teil: Es werden wohl generell die Schuldenstände reduziert werden müssen, aber auf eine Weise, die die Wirtschaft nicht abwürgt. Es ist ja eine bekannte versimpelte Sichtweise, dass scheinbar die Linken eher für’s Schuldenmachen sind, während die Konservativen dagegen sind (außer wenn sie ihre Kumpels aus den Banken aus dem Morast ziehen müssen). Schulden sind freilich keineswegs „links“. Erstens, weil dem Wachstum der öffentlicher Schulden notwendigerweise das Wachstum privater Vermögen gegenüber steht (es sind ja Private, und hier eher die Wohlhabenderen, die Staatsanleihen und andere Wertpapiere halten), und zweitens, weil sie über den Zinsmechanismus eine Umverteilung von allen Steuerzahlern zu den Wertpapierhaltern nach sich ziehen. Ganz abgesehen, dass sich Staaten mit hohem Schuldendienst von den Finanzmärkten abhängig machen, was nicht unwesentlich zur dominanten Stellung der Finanzmarktakteure im Wirtschaftsleben beitrug. Auch wenn öffentliche Verschuldung ökonomisch zeitweise schon sinnvoll sein kann, ein erstrebenswertes Ziel ist es keineswegs. Mit Hilfe von Vermögenssteuern die Haushalte ausgeglichen zu halten ist sicher „linker“ als sie mit Schulden zu finanzieren. Kurzum: Wachstum statt Totsparen für die Krisenländer, mehr Geld für den europäischen Haushalt, Finanzierung über Vermögenssteuern, Abbau der Staatsschulden – all das wären wohl Stichworte für die fälligen Gegenstrategien. 
Aber die traditionellen politischen Kräfte sind lahm und haben verlernt, in konzisen Ideen zu denken. Bei den postpolitischen Protestierenden ist es letztlich auch nicht besser. „Wir können beschreiben, was passiert, wir verstehen die Gründe, wird spüren die Konsequenzen – aber es gibt kein stimmiges und inspirierendes Alternativprogramm“, schreibt der Autor Kostis Karpozilos in Hinblick auf die griechischen „Empörten“. Bei aller Sympathie für die anti-politischen Protestierenden, so Karpozilos, bestärkt dieses Gegen-alle-Parteien-Ressentiment letztendlich das Gefühl der „Hoffnungslosigkeit“. Denn das „gemeinsame Gefühl der Unzufriedenheit“ ersetzt kein Programm und keine Politik. 
Das ist nicht nur in Griechenland so. 

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