„Intellektueller“ – klingt das nicht irgendwie peinlich?

„Indes“, so heißt die ambitionierte neue Zeitschrift des „Göttinger Instituts für Demokratieforschung“. Für ihre erste Ausgabe stellte sie sich die Frage: „Wo sind die Vordenker?“ Die gesamte Ausgabe als pdf gibts hier. Und zum Webportal indes-online geht’s hier. Zum Start habe ich den Kolleginnen und Kollegen einen kleinen Videocast produziert und eine „intellektuelle Katographie Wiens“ geschrieben. 

Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass der Kaffeehausintellektuelle ausgestorben ist. 
Zur intellektuellen Kartographie Wiens.
Der Kaffeehausintellektuelle kommt in Wien nicht mehr vor, und wenn doch, dann nur mehr als Insultierung. Der Begriff selbst ist heute vollends in der Hand von Dummköpfen, für die er ein wohlfeiles Instrument ist, ihre antiintellektuellen Ressentiments aufzuhübschen. Für diese ist schnell jeder, der zwei, drei zusammenhängende Gedanken zu fassen in der Lage ist, ein Kaffeehausintellektueller, was in diesem Fall ja nicht nur einen gescheiten Menschen meint, der im Kaffeehaus sitzt, sondern einen, der sich irgendwelche realitätsfernen Gedanken macht, aber nie zu irgendeiner Praxis kommt, weil er ja so gemütlich im Kaffeehaus sitzt, wo er elegant einen Aphorismus an den anderen reiht, wo er möglicherweise auch messerscharfe Kritik an den bestehenden Verhältnissen übt, und dann wieder versäumt, die kritikwürdigen Verhältnisse zu verändern, denn – siehe da! – schon wieder ist es spät geworden, die Sperrstunde ist da und etwaige dementsprechende Vorsätze müssen auf morgen verschoben werden. 
Dieses Ressentiment gegen den Intellektuellen als bloß schwadronierenden Kaffeehausintellektuellen ist wohl so alt wie der Begriff selbst, wie schon die berühmte Anekdote aus den späten Tagen des Ersten Weltkrieges beweist, als der K.u.K. Ministerpräsident Heinrich Graf Clam-Martinic auf die Möglichkeiten einer Revolution in Russland angesprochen, entgegnete: „Revolution in Russland? Wer soll die denn machen? Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?“

Wie wir wissen blieb das Café Central in der Herrengasse nicht die letzte Karrierestation des Herrn Bronstein, der sich längst den Nom de Guerre Trotzki zugelegt hatte. 
Heute spukt das Klischee nur mehr im Kopf von Touristen herum, die sich mit ihren literarischen Reiseführern auf den Weg durch die Kaffeehäuser machen, oder im Kopf von Berlinern, Brüsselern oder New Yorkern, die es gerade bis zu diesem simpelsten aller Stereotypen bringen, wenn sie die Catch-Phrase „Wien“ hören. Nachdem ich vor einigen Monaten einmal in einem Kommentar eine leise politische Kritik an der „Linkspartei“-Vorsitzenden Gesine Lötzsch äußerte, schrieb sie eine Antwort in der „taz“, die folgendermaßen begann: „Als ich den Artikel von Robert Misik las, stellte ich mir vor, dass er in einem netten Wiener Kaffeehaus saß und seinen Kommentar ‚Verlorenes Paradies‘ über die Kommunismus-Debatte in Deutschland schrieb.“
Ich muss zugeben, dass ich Artikel, die so beginnen, gar nicht mehr weiter lese. 
Denn, was immer sich Vorsitzende deutscher Linksparteien auch vorstellen mögen, es ist natürlich auch in Wien so, dass Intellektuelle heutzutage daheim am Schreibtisch, oder an der Universität in ihrem Büro oder in der Redaktion an ihrem Computer sitzen, im Theater in ihrem Dramaturgenstuhl, in ihren Start-Ups die irgendetwas mit Internet machen, oder im Taxi hinter dem Lenkrad. Und zweitens gehen sie natürlich gelegentlich Mittags auf einen Snack oder frühabends auf einen Kaffee in Kaffeehäuser (von denen manche noch so ähnlich aussehen wie die vor hundert Jahren) oder in Cafes (die auch nicht anders aussehen als das, was man in Berlin „Kneipe“ nennt), sie lesen da Zeitung oder treffen zufällig einen Bekannten, mit dem sie dann ein Gespräch beginnen. Kurzum, sie tun nichts anderes als ihre Standesgenossen anderswo auch. 
Eine Inspektion der intellektuellen Szenerie Wiens und Österreichs im allgemeinen muss zunächst also zwei Feststellungen treffen. Erstens: Nichts verstellt den Blick so sehr wie das Klischee vom Habitus des gemütlichen Schwadronierens im Kaffeehaus. Zweitens: Statt auf die Besonderheit, auf die man früher allen Ton gelegt hat – wenn man so will: die eigentümliche Kautzigkeit -, müsste in einem ersten Schritt also die Ähnlichkeit der Wiener Szenerie mit der anderer Metropolen bekräftigt werden. Erst auf Basis dieser Dekonstruktionen liebgewonnener Geistesgeschichtskonstruktion können die konkreten Besonderheiten in den Blick genommen werden. 
Für’s Erste ist natürlich ein Wort über die besondere Situation des intellektuellen Wiens im Verhältnis zu Österreich angebracht. Wien ist, als einzige große Stadt in einem kleinen Land, das intellektuelle Zentrum Österreichs. Das heißt natürlich nicht, dass es außerhalb von Wien keine Intellektuellen gäbe, ja, es gibt sogar sehr lebendige künstlerische und intellektuelle Biotope in Graz, in Linz und auch in kleinstädtischen Konglomeraten. Aber sie sind auf ganz andere Weise auf Wien ausgerichtet, als das ein Frankfurter Intellektueller auf Berlin wäre. Eine Grazer Literaturzeitschrift ist schon deshalb besonders, weil sie nicht in Wien erscheint. 
Die Intellektuellen aus der Provinz, wie man in Wien herablassend sagen würde, beziehen sich auf das, was sich in Wien tut. Sie sind vielleicht sogar „gegen“ Wien, betonen den spezifischen Vorteil der Kleinstadt oder die Ruhe oder Normalität des flachen Landes, sie würden vielleicht gerne nach Wien ziehen oder aber gute Gründe zu formulieren wissen, warum sie es vorziehen, nur gelegentlich nach Wien zu reisen und weshalb sie stets froh sind, wieder wegzufahren. Was auch immer, sie werden sich in einen Bezug zu Wien setzen, sie werden in der Regel Gründe vorbringen, weshalb sie nicht in Wien sind, wohingegen ein Kölner Künstler genauso gut in Köln sein kann, wie er nach Frankfurt, Hamburg oder Berlin gehen kann, weshalb es auch keinen Anlass hat, darüber viele Worte zu verlieren. 
Es gibt natürlich historisch verschiedene Vorstellungen, was ein Intellektueller überhaupt ist. Ein akademisch gebildeter Mensch? Ein Homme des Lettres? Oder ein Mann oder eine Frau, die auf Basis ihrer humanistischen Bildung und ihres Renomees als Autor zur Allgemeinheit über allgemein bedeutende Fragen spricht – im Sinne des alten Role-Modells des „intervenierenden Intellektuellen“? Ich will diese Frage einmal beiseite lassen und bildende Künstler genauso wie Literaten, Journalisten, die einen gewissen geistigen Standard halten wollen, ebenso wie alle Formen von Geisteswissenschaftlern und vielen Naturwissenschaftlern, gelehrte Kirchenleute genauso wie geistig wache Internetfuzzis und originelle Vorstadtrapper einmal unter diesen Begriff subsumieren. Das scheint mir nicht nur die gleichsam technische Definitionsfrage zu ersparen, wer denn eigentlich zu den Intellektuellen gehört und wer nicht, sondern ist notwendig, um die spannende und unübersichtliche Szenerie intellektuellen Geschehens überhaupt in den Blick bekommen zu können, die avancierte Großstädte heute auszeichnet. 
Nun ist, wenn man die Dinge so betrachtet, natürlich die intellektuelle Szenerie jeder Großstadt fragmentiert, dezentriert, sie besteht aus Inseln, die lose verbunden sind, aber doch nebeneinander her existieren. Die gegenwärtige intellektuelle Szene Wiens scheint mir noch einen Kick fragmentierter. Wer sich für das Theater interessiert und in der Autoren- und Dramaturgenszene unterwegs ist, der weiß oft nicht einmal, was sich an der Universität Wien tut. Er nimmt vielleicht einfach an, dass an der Universität Wien ohnehin nichts Bemerkenswertes geschieht und dass sein Desinteresse dafür wohlbegründet ist. 
Kurz ein paar Spotlights auf eine Karte der intellektuellen Szene der Stadt. Was gibt es hier, was ist prägend für sie? Da ist einmal die literarische Szene mit Namen wie Robert Menasse, Franz Schuh, Doron Rabinovici und einigen anderen, die nicht nur zufällig hier schreiben, sondern auch im geistes-gesellschaftlichen Leben eine wichtige Rolle spielen. Dann eine lebendige Galeristenszene. Ein paar Kunstinstitutionen wie etwa die „Kunsthalle“. Ein paar avancierte Clubs mit einer künstlerisch wichtigen E-Musik und Sound-Frame-Szene. Ein paar Zeitungen wie der „Falter“, „Der Standard“, „Profil“. Drei, vier vielgelesene Kolumnistinnen und Kolumnisten. Die Popkultursender FM-4, der auch viele schräge Wortsendungen und intelligente Comedy bringt. Einige sehr erstaunliche Filmemacherinnen und Filmemacher, wie Stefan Ruzowitzky und Barbara Albert. Einige außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, die immer wieder tolle Leute hier her bringen, wie das „Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften“ (IFK) oder das „Institut für die Wissenschaften vom Menschen“ (IWM) und kleine Think-Tanks wie das „Bruno-Kreisky-Forum“. Neuere Kunstinstitutionen wie das Brut oder das Theater „Garage X“, natürlich auch die etablierten Theater wie das Burgtheater und das Schauspielhaus. Die künstlerisch und theoretisch avancierte „Blase“ (man entschuldige den saloppen Ausdruck, ist nicht böse gemeint!), die sich in den vergangenen Jahren in der „Akademie der Bildenden Künste“ gebildet hat, die seit einiger Zeit von Berliner Intellektuellen wie Diedrich Diederichsen und Tom Holert geprägt wird. Und einige dutzend bemerkenswerte subkulturell-intellektuelle Projekte/Milieus. All das ist unübersichtlich, fragmentiert, man lebt freundlich neben einander her, begegnet einander bisweilen auch mit dem mileutypischen Distinktionshabitus, man unterscheidet sich ja schließlich nicht nur in Meinungen und Stil, sondern eben auch in personalem Habitus und den Auffassungen darüber, was „Contemporary“ heißt. 
Nun ist das überall so, aber in Wien gibt es wenig integrierende Institutionen. So gibt es etwa keine g
roßen Verlage, die Autoren der verschiedenen Milieus drucken und damit repräsentieren und somit auch zusammen bringen würden. Es gibt einige Verlage, die de facto selbst Milieuverlage sind, also jeweils eine der verschiedenen Subkulturen repräsentiert, die meisten der einigermaßen etablierten Autoren publizieren bei deutschen Verlagen, bei Suhrkamp, Fischer, Aufbau oder sonst wo. Im übrigen leben manche von diesen Autoren auch gleich in Deutschland, wie Elfriede Jelinek, die zumindest wesentliche Teile des Jahres in München verbringt, oder Kathrin Röggla, die in Berlin lebt. 
Man kann eine Kartographie des künstlerisch-intellektuellen Lebens in Wien nicht ernsthaft versuchen ohne das Wort „Globalisierung“ zu gebrauchen. Künstlerische und intellektuelle Milieus sind heute viel stärker global verbunden, sie sind nomadischer als früher und das gilt noch einmal besonders für den deutschsprachigen Großraum. Man kann in Wien die besten Theatervorführungen sehen, man kann die besten Musikgigs hören, und es werden die selben Leute auftreten und inszenieren wie in Hamburg, Zürich oder Berlin. Das ist natürlich toll, wenn eine globale A-Liga auf Wanderschaft ist und man das Beste jeder Kulturgattung überall sehen und hören kann, aber das nimmt natürlich auch lokalen Differenzen ihre Signifikanz.  
Was die intellektuelle Szene Wiens bis heute prägt ist eine spezifische Politisierung, die daraus folgt, dass man nicht anders kann, als sich politisch zu positionieren. Österreich ist ein Land, in dem eine rechtspopulistische Partei, die man mit gutem Recht auch rechtsradikal nennen kann, heute in Umfragen bei knapp unter 30 Prozent liegt. Sie war zu Beginn des Jahrtausends einige Jahre in der Regierung, die öffentlichen Debatten sind vergiftet vom Geist der Xenophobie und des Rassismus. Intellektuelle und künstlerische Milieus sehen sich daher in hohem Maße als Hort des Widerstands, der Dissidenz, der Nicht-Einverstandenheit mit diesem rechten Zeitgeist, aber auch mit einer etablierten Politik, die ihn durch Kleingeistigkeit und Unfähigkeit begünstigt. Die österreichischen Intellektuellen sind daher auch oft ein wenig obsessiv fixiert auf diesen Gegner – salopp gesagt: die Rechten – eine Obsession, die übrigens auf Gegenseitigkeit beruht: die unpatriotischen Gutmenschen, die Künstler, Intellektuellen und Schriftsteller rangieren in der Rhetorik der Freiheitlichen gleich nach den Ausländern und der Europäischen Union auf Platz Drei der Quelle allen Übels. 
Und in dieser Konstellation steckt auch ein ordentlicher Schuss österreichischer Geistestradition. Wenn auch der Kaffeehausintellektuelle ausgestorben sein mag, so kommt es doch häufig vor, dass man im Kaffeehaus sitzt und sich erregt, wie das schon Thomas Bernhard und Generationen vor ihm taten, darüber, wie schrecklich alles sei, Österreich doch ein geistesfeindlicher Sumpf ist, und die Zeitungen, die sind doch wirklich nur mehr als Klopapier zu gebrauchen, und überhaupt, dass alles bergab geht mit diesem missratenem Land. Und das Schlimmste ist: Es stimmt sogar. 
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