Vom Kapitalismus zum Kaputtalismus

Hyman P. Minsky erklärt, warum der Kollaps von Finanzmärkten kein Unfall ist, sondern eine Notwendigkeit – wenn man sie nicht an die kurze Leine legt. Berliner Zeitung, 31. Juli 2012
In den Nullerjahren herrschte die allgemeine Ansicht vor, dass „der Kapitalismus“ ein höchst raffiniertes, erfolgreiches System ist, und paradoxerweise waren sich da die Haus- und Hofprediger des zeitgenössischen Finanzmarktkapitalismus mit seinen Kritikern einig. Feierten die ersten schon die „krisenfreie Ökonomie“, die sie im globalen, postmodernen Kapitalismus verwirklicht sahen, so beklagten letztere eine „Welt ohne außen“, die sich alles untertan mache, in einer äußeren Landnahme jeden Winkel durchdringe, in einer inneren Landnahme nicht nur materielle, sondern auch psychische Ressourcen, Gefühle, Emotionen, das gesamte Leben der Menschen kolonisiere. 
Der Kapitalismus erschien mächtig und niemand hätte über ihn gelacht. 
Aber jetzt machen seine Kritiker schon Witze auf seine Kosten. Spitze Zungen nennen ihn „Kaputtalismus“, weil er sich selbst kaputt gemacht hat und fraglich ist, ob er im laufenden Betrieb noch repariert werden kann oder wie eine scheppernde Maschine irgendwann auseinanderfällt. 

Im Apercu vom „Kaputtalismus“ steckt vielleicht mehr Wahrheit, als manche vermuten mögen, liest man die Bücher des großen amerikanischen Ökonomen Hyman P. Minsky. Vom Wirtschaftswissenschaftler Minsky, einem originellen Schüler John Maynard Keynes, der 1996 verstorben ist, wollte zu Lebzeiten fast niemand etwas wissen, weshalb seine Bücher auch kaum ins Deutsche übersetzt sind – vor allem betrifft das sein wohl wichtigstes Werk, „Stabilizing an Unstable Economy“. Aber seit dem Absturz in die Finanzkrise gibt es einen großen Minsky-Hype in der Fachwelt, und dem kleinen diaphanes-Verlag ist dafür zu danken, einige Aufsätze Minskys unter dem Titel „Instabilität und Kapitalismus“ zusammengefasst zu haben. Minskys Forschungen kreisten um die notwendige, inhärente Instabilität von Finanzmärkten, die dafür sorgt, dass die Marktwirtschaft stets auf des Messers Schneide steht. Der „Kaputtalismus“ ist so gesehen die andere Seite des „Kapitalismus“.
Im Finanzsystem neigt nämlich nichts zum vielbeschworenen „Gleichgewicht“, wonach Märkte gemäß der Lehre der klassischen Ökonomie angeblich tendieren würden. Dieses Gleichgewicht würde auch nicht nur durch „Schocks“ oder falsch agierende Regierungen oder Arbeiter, die zu viel Lohn verlangen, gestört (wie das die Mainstream-Ökonomie annimmt), für Minsky gibt es in der kapitalistischen Ökonomie „endogene destabilisierende Kräfte“. 
Für Minsky liegt klar zutage, „dass die fundamentale Instabilität einer kapitalistischen Ökonomie in einer Explosionstendenz besteht – also darin, in einem Boom oder einen ‚euphorischen‘ Zustand einzutreten“. Minsky: „Alle Kapitalismen sind instabil, aber manche sind instabiler als andere.“
Instabil sind vor allem jene, in denen Banken und andere Finanzmarktakteure nicht streng reguliert sind. Und zwar nicht wegen Gier oder schlechter Geschäftsgebarung – dass das Finanzsystem regelmäßige Crashs hinlegt, ist für ihn in die Logik ihres Funktionierens eingeschrieben. Im Boom winken hohe Gewinne. Wirtschaftssubjekte finanzieren ihre Anlagen auf Pump. Sie kaufen Wertpapiere. Die steigen im Wert. Banken halten die Papiere in ihren Büchern, zum Marktwert. Sie haben hohe Vermögenswerte und können daher weitere Kredite ausgeben. Je euphorischer die Stimmung, umso weiter greift das um sich, was Minsky die „spekulative Finanzierung“ nennt, und später sogar die „Ponzi-Finanzierung“ – dass Kredite nur mehr bedient werden können, solange der Wertzuwachs so weiter geht. Aber die Subjekte sind nicht notwendigerweise „überschuldet“. Ihren Verbindlichkeiten stehen ja Vermögen gegenüber. 
„Eine solche expansionistische Phase wirkt in mehrerlei Hinsicht destabiliserend. Zum einen erhöht sie sehr schnell den Wert bestehenden Kapitals. Zum zweiten steigt die Bereitschaft, den Erwerb von Realkapital zu finanzieren, indem man Verbindlichkeiten emittiert“, schreibt Minsky. 
Aber wenn der Boom zu Ende geht, verlieren die Vermögen an Wert. Plötzlich droht die Überschuldung. Die Wirtschaftsakteure müssen ihre Wertpapiere abstoßen. Da das alle gleichzeitig machen, verlieren die weiter an Wert. Das ist der Moment, in dem die Abwärtsspirale einsetzt, der Augenblick, den man heute in der Fachwelt schon „Minsky-Moment“ nennt. Was gestern noch als fetter Vermögenswert in den Büchern stand, wird heute zum „toxischen Papier“. Minsky beschreibt das in der kühlen analytischen Sprache des Ökonomen so: „Diese Einheiten müssen sich dann Geld beschaffen, indem sie neue Schulden aufnehmen oder Vermögenswerte verkaufen. Mittlerweile versuchen sich die Einheiten mit Refinanzierungsschwierigkeiten über Wasser zu halten, indem sie Vermögenswerte verkaufen. In der Folge sinken die Preise der Vermögenswerte, mittels derer versucht wird, Positionen zu schaffen, und die Bedingungen, zu denen der Markt Verbindlichkeiten anbieten, verschlechtern sich.“
Hat man das einmal verstanden, dann ist klar, dass es kein „Unfall“ ist, der einen erfolgreichen Kapitalismus an den Rand des Kollapses bringt – sondern dass eben jener „Erfolg“ die Bedingung für den Kollaps ist. Eine Marktwirtschaft, die von Boom in allgemeine Zuversicht und Euphorie übergeht, wird eben wegen dieser Euphorie Verschuldungsstrukturen entwickeln, die sie selbst kaputt machen – wenn das Finanzsystem nicht von einer starken Regierung so reguliert wird, dass das unmöglich ist. 
Hyman P. Minsky: Instabilität und Kapitalismus. Diaphanes-Verlag, 2011. 142 Seiten. 14,90.- Euro. 
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