Wer dem armen Schlucker die Sozialhilfe neidet, der kürzt sich am Ende selbst das Einkommen

Warum eine generöse Mindestsicherung und ordentliche Mindestlöhne für alle gut sind – auch für die, die mehr verdienen und nie in Gefahr kommen, von der Stütze leben zu müssen. 
Ich habe über dieses Thema schon an verschiedenen Stellen in größerem Zusammenhang geschrieben, will mir hier aber einmal auf diesen Aspekt beschränken. Denn wir wissen ja alle, dass es in unseren Gesellschaften verschiedene Verständnisse von „Gerechtigkeit“ gibt, die aber auch miteinander in Konflikt geraten können. 
Und ein solcher „Gerechtigkeitsinstinkt“ ist auch der, da soll man gar nicht die Augen davor verschließen, dass manche Leute mittleren Einkommens anderen Leuten eine generöse Mindestsicherung, höhere Hartz-IV-Sätze, Sozialhilfesätze (egal, wie man das jetzt in welchem Land auch immer nennt), nicht gönnen. Sie würden dann sagen: Ich arbeite jeden Tag und geh mit 2000.- Euro heim oder weniger. Und der faule Sack liegt daheim und bekommt, wenn er auch noch Familie hat, 1200.- Euro oder ähnliches. Das ist nicht gerecht. Man soll dem die Stütze kürzen. Oder ihm zumindest die Damenschrauben anlegen, damit er sich einen Job sucht. 
Man kann diesen Instinkt verständlich finden oder mies – aber das ist hier nicht der Punkt. 
Der Punkt ist ein anderer. Angenommen, wir leben in einer Gesellschaft, die bisher ihren aus welchen Gründen immer Gescheiterten einen Sozialhilfesatz von 800.- bezahlt hat. Dann werden in der Regel die niedrigsten Mindestlöhne ein wenig darüber liegen. Sagen wir: 900.- oder 1000.- Euro. Weil sich ansonsten zumindest aus pekuniären Gründen die Aufnahme von Arbeit nicht lohnen würde. Jetzt wissen wir zwar, dass sehr sehr viele Leute bereit sind, Arbeit auch dann anzunehmen, wenn sie kaum nennenswert über dem Sozialhilfesatz vergütet wird, weil viele Menschen es als entwürdigend ansehen, zum Amt zu gehen, weil sie es mögen, eine Arbeit zu haben, statt fad daheim herumzusitzen. Aber in der Regel werden die niedrigsten Löhne doch oberhalb des Sozialhilfesatzes liegen. 

Was passiert aber nun, wenn man den Leuten Daumenschrauben anlegt, damit sie zur Aufnahme von Arbeit gezwungen werden? Etwa, indem man ihnen droht, die Stütze temporär zu reduzieren, wenn sie angebotene Arbeitsstellen nicht annehmen, Termine am Arbeitsamt verstreichen lassen oder sonst etwas? 
Dann wissen Arbeitgeber, bei denen sich solche Leute bewerben, dass sie die Stelle annehmen müssen, dass sie also regelrecht dazu gezwungen sind. Dann werden die Löhne im niedrigsten Einkommenssegment zu sinken beginnen. Das ist die eigentliche fatale Folge der Hartz-IV-Reformen. Sie hatten sicherlich ein paar positive Effekte, aber der negativste Effekt ist die Etablierung eines Niedriglohnsektors. 
Nun, was bedeutet aber die Etablierung eines breiten Niedriglohnsektors? Zunächst für die Volkswirtschaft als ganzes: Konsumnachfrage sinkt. Deswegen sinken die Gewinnaussichten von Unternehmen, statt dass, wie angekündigt, mehr Arbeitsplätze geschaffen werden (weil doch die Arbeitnehmer billiger werden), werden sogar Arbeitsplätze vernichtet – oder weniger geschaffen. 
Deshalb gibt es in Ländern mit niedrigen Mindestlöhnen oder in Ländern, die überhaupt keine Mindestlohnregelung kennen, paradoxerweise die höchste Arbeitslosigkeit im Niedriglohnsegment, wie wir heute aus vielen ökonomischen Studien wissen, und wie das mittlerweile auch die EU-Kommission in einem Gutachten festgestellt hat. 
Was bedeutet aber all das für die einzelnen Arbeitnehmer, für diejenigen, deren Einkommen teilweise deutlich über den Mindestlöhnen liegt (und auch über den KV-Löhnen ihre Branchen), und die glauben, selbst nie in die Gefahr zu kommen, von Sozialhilfe abhängig zu sein? 
Es bedeutet, dass auch ihre Löhne sinken oder zumindest nicht mehr schnell steigen werden. 
Warum das? 
Weil jede Gesellschaft und auch jedes Unternehmen eine Einkommenshierarchie kennt. Und weil diese Hierarchie von den untersten Einkommen abhängt, und diese wiederum von der Höhe der Sozialhilfe und anderer Unterstützungen. 
Nehmen wir an, wie gesagt, die Sozialhilfe beträgt 800.- und wird ausbezahlt, ohne mit größeren Zwangsmaßnahmen verbunden zu sein. 
Dann wird das untere Einkommenssegment in dieser Gesellschaft wohl rund 1000.- Euro betragen. Das erhalten die ungelernten, schlecht qualifizierten Arbeitnehmer. 
Die schon etwas besser qualifizierten werden dann ca. 1400 erhalten, die nächsthöheren Angestellten 1800.-, die mittleren Angestellten zwischen 2200 und 3000.- und die wichtigeren und leitenden Angestellten irgendwo darüber zwischen 3300 und 6000. Die einzelnen Ziffern sind eigentlich relativ egal, aber wer das wirkliche Leben im der wirklichen Wirtschaftswelt kennt, weiß, dass Unternehmen und Manager sehr genau darauf achten, einen Lohnabstand zwischen den Beschäftigtengruppen zu etablieren, sodass sich Status auch in Einkommen verdeutlichen kann. 
Je höher die niedrigeren Einkommensklassen, umso höher müssen dann auch die gehobenen Einkommensklassen sein, wenn man diese Statusdifferenzen noch abbilden will. 
Reduziert man aber die Einkommen der Niedrigverdiener, löst das einen Abwärtssog auf praktisch alle Einkommensgruppen unterhalb der Spitzenverdiener und der Managementebene aus. 
Erhöht man die Einkommen der Niedrigverdiener, wird ein Druck nach Oben etabliert, von dem alle Einkommensbezieher etwas haben. 
Das heißt aber auch: Wer dem armen Schlucker die Sozialhilfe neidet, der kürzt sich am Ende selbst das Einkommen. 
Sehr klug ist das also nicht. 
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