Politisiert Euch!

Die Kunst soll relevant, das Theater politisch sein. Gleichzeitig verwandelt sich in der Kunstfalle jede Radikalität ins Harmlose. Erkundung eines Dilemmas. Wiener Zeitung, 12. Dezember 2014
Wie alles, was nicht gänzlich neu ist, eine Geschichte hat, so hat auch das Verhältnis der Kunst zur Politik heute schon eine lange Geschichte. Da gab es immer die Künstler, die sich vom Politischen gänzlich angewidert fernhielten: solitäre oder vollends unpolitische Autoren etwa, der Typus zwischen Stefan George bis Michel Houellebecq. Dann gab es die Künstler, die direkt politisch – beinahe parteipolitisch – wirken wollten, Figuren wie Günther Grass bis Heinrich Böll. Thomas Mann war äußert politisch, als er sich noch als „Unpolitischer“ in Pose warf – und später erst recht, als er zum streitbaren Demokraten geworden war; dann wieder andere, die in einem allgemeineren Sinne eine politische Wirkung erzielen wollten, von Bertolt Brecht bis Elfriede Jelinek; und natürlich die Politisierung der Kunst nach ’68, und sofort danach der Katzenjammer über den blauäugigen Glauben, mit Inszenierungen, in denen untalentierte Leute von der Straße in blauer Arbeitsjacke Revolutionäre spielten, könne man irgendetwas revolutionieren. Politischer Anspruch und dessen Uneinlösbarkeit, der Wunsch nach Relevanz und das Wissen, dass die Radikalität im eingezäunten Feld der Kunst am Ende auch nichts anderes liefert als Entertainment liegen schon seit Jahrzehnten in einer dauernden Spannung. Illusionen, die man vor 50 Jahren noch haben konnte, gingen sukzessive verloren und ein Phantomschmerz machte sich breit. Kann man in Demokratien, in denen alles gesagt werden kann und deswegen nichts mehr eine Bedeutung hat, überhaupt noch politische Kunst machen?

Heiner Müller, ein Dichter, von dem nie ganz klar war, ob er ein „politischer Künstler“ ist (er hätte wohl eingewandt, er mache keine politische Kunst, sondern er mache politisch Kunst, was ein kleiner, aber bedeutender Unterschied ist), sprach einmal von der „Kunstfalle“. Diese Kunstfalle ist dadurch charakterisiert, dass sich jeder Stoff und jede Rede, in Kunst verwandelt, gleichzeitig in Harmlosigkeit verliert. Ein radikaler Text, beispielsweise, der, würde er von einem Politiker gesprochen oder einem Leitartikler geschrieben, aufrührerisch, möglicherweise sogar skandalös wäre, ist auf einer Bühne eben ein Text, der von einem Schauspieler gesprochen und von einem Publikum gehört wird, das um die Künstlichkeit der Bühnensituation immer schon Bescheid weiß. Die Bombe auf der Bühne ist keine Bombe, sondern ein Bühneneffekt. 
Diese Einsicht führte aber nur für ein paar Jahre zu einer Entpolitisierung von Kunst, sondern irgendwann Ende der 90er Jahre zu einer schier verzweifelten Politisierung: Theaterschriftsteller, Autoren, auch bildende Künstler und andere Performing Artists sollten plötzlich wieder politisch sein, wussten aber selbst nicht, wie das gehen sollte. Wenn beinahe jeder Stoff zum Entertainment für das Premierenpublikum mit dem Prosecco-Gläsern in der Hand taugt und – schlimmer noch -, wenn alles, was heute aus einem radikalen Impuls geboren wird, morgen auf einem kommerziellen Kunstmarkt von den Sammlern ersteigert wird, ist da nicht jeder Kunst der Stachel längst gezogen?
Wobei ja nicht so sehr die Frage ist, ob politische Kunst möglich ist, die mit künstlerischen und politischen Mitteln gesellschaftlich relevante Fragen behandelt. Um genau zu sein ist ja die entscheidende Frage, ob sie damit auch etwas bewirken kann.
Gewiss gibt es ganz hervorragende Kunst, die politisch ist: Von den Theaterstücken René Pollesch bis zu jenen von Elfriede Jelinek oder den Romanen von Reinald Goetz, die die zeitgenössische Welt sezieren, von Banksys Graffities bis zu Barbara Krugers Installationen, all das ist hervorragende Kunst und natürlich „irgendwie“ politisch. Auf noch viel eminentere Weise ist das „dokumentarische Theater“ von Milo Rau politisch, in dem Fiktion und Realität immer ineinander kollabieren im knisternd-elektrisierten Theaterraum. Aber die narzistische Kränkung besteht ja im Verdacht, dass das alles nichts bewirke.
Natürlich ist die Frage des „Bewirkens“ ein Aspekt, über den man schon alleine deshalb lange fruchtlos diskutieren kann, weil ja nicht einmal klar ist, was das heißt: etwas „bewirken“. Auch ein Gedanke, der dem Zuseher plötzlich durch den Kopf schießt, ist eine Wirkung. Selbstverständigung einer Gesellschaft mit sich selbst, das wäre eine ganz immense Wirkung, die ohnehin die Möglichkeiten des heutigen Theaters übersteigt. Oder meint man unter Wirkung gar, dass das Publikum aus dem Saal geht, und dann gleich einen Aufstand anzettelt? Nun, auf diese Wirkung kann man in aller Regel lange warten.
Eine andere Frage – und eine viel kunstnähere Frage – ist die nach den relevanten Stoffen und deren Form. Der Anspruch, politisch sein zu müssen, stellt sich natürlich nicht jeder Kunstgattung in gleicher Weise. Ebensowenig wie der Anspruch, innovativ sein zu müssen. Diese beiden Ansprüche werden auf besondere Weise an das Theater herangetragen. Das hat mehrere Gründe, von denen manche klarer sind und manche weniger klar. Erstens ist Theater die vielleicht öffentlichste Kunstform mit einer ganz spezifischen Art der Interaktion von Künstlern und Publikum. Theater sendet Botschaften, auf die das Publikum direkt reagiert. Theater ist beinahe öffentliche Rede. Theater ist auch flüchtig: Was nicht im Moment der Aufführung geschieht, geschieht nie. Theater ist auch einem ganz anderen Innovationsdruck ausgesetzt, als etwa das Schreiben von Romanen. Theater wird stets gefragt, wofür es eigentlich noch gut ist – eine Frage, mit der sich Maler oder Romanautoren eher selten herumplagen müssen. Seit ich mich mit Theater beschäftige, ist von „Der Krise des Theaters“ die Rede.
Politisches Theater adressierte immer die großen Fragen: Macht, Krieg, Unterdrückung, Rebellion, die großen Umbrüche und was all das in den Subjekten anrichtet – von Shakespeares Hamlet bis zu Brechts Baal. All das ist leichter dramatisierbar als das Geschehen auf den Finanzmärkten. In den besten Exempeln zeitgenössischen politischen Theaters ist die Macht in die Subjekte eingewandert, die sich selbst zu Agenten ihrer Unterdrückung machen – wie etwa bei Pollesch‘ Kunstfiguren der postfordistischen, neoliberalen Subjektivierung. Welche Stoffe gibt die Generation Praktikum her? Welche die Angst, die sich in unsere Wettbewerbsgesellschaften schleicht? In aller Regel muss man da als Autor schon sehr genial sein, um nicht banal zu werden.
Der Skandal ist allzu leicht kalkuliert, die Radikalität läuft immer Gefahr, eine reine Pose zu sein.
Doch nicht nur die Stoffe sollen innovativ sein, auch die Formen sollen es sein. Vom realistischen, psychologischen Theater der frühen Moderne, über das epische Theater Brechts bis hin zu den verschiedenen Spielarten des postdramatischen Theaters der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart: Formen müssen revolutioniert werden, denn Theater lebt auch immer davon, dass man etwas sieht, „was man so noch nicht gesehen hat“. Die Innovation mag Gründe haben, aber sie ist auch ihr eigener Grund. Innovation muss einfach sein. Aber die formale Innovation ist selbst eine Gefahr: Formale Genialität kann inhaltliche Leere auch leicht übertünchen.
Die Hürden für relevantes Theater werden so aber immer höher geschraubt: Es soll relevante Stoffe auf innovative Weise präsentieren und dabei am besten auch etwas bewirken. Die Themen absolut contemporary, die Formen noch nie dagewesen. Gleichzeitig soll das auf der Bühne und in der Institution Theater geschehen, die allgemein als das Spielfeld erlaubter Radikalität angesehen wird, um nicht zu sagen: als Ort staatlich subventionierter Systemkritik. Kurzum: In der Kunstfalle, die noch die gewichtigste Kritik in Harmlosigkeit verwandelt.
Es ist eigentlich ein Wunder, dass das gelegentlich doch noch irgendwie gelingt.
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