Lifestyle-Kapitalismus

„Aus Politik und Zeitgeschehen“, die tolle Beilage der deutschen Wochenzeitung „Das Parlament“, widmet sich in ihrer aktuellen Ausgabe dem Thema Mode. Dafür habe ich diesen Beitrag geschrieben, der sich der Symbiose von Lifestyle und Kapitalismus widmet.

Link zum vollständigen Heft gibts hier.

Kultur ist Kapital. Heute ist schon die Unterscheidung selbst ziemlich nutzlos. Kaum eine Firma kann es sich noch leisten, ein Produkt einfach so auf den Markt zu werfen. Das moderne Unternehmen ist ein Kulturunternehmen, der zeitgenössische Kapitalismus, nach einem Wort von Jeremy Rifkin, ein „Kulturkapitalismus“. Es würde schon zu kurz greifen, zu formulieren: Das Image ist so bedeutend wie der Gebrauchswert einer Ware. Denn oft ist das Image der eigentliche Gebrauchswert. Design ist nicht nur Reklame, die den Verkauf befördern soll, das Design ist das eigentliche Produkt. „Was wir auf dem Markt kaufen“, schreibt Slavoj Žižek, „sind immer weniger Produkte und immer mehr Lebenserfahrungen wie Essen, Kommunikation, Kulturkonsum, Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil.“ Firmen haben damit begonnen, ihre Produkte mit einem Lebensstil, einem Lebensgefühl zu verbinden, um sie besser verkaufen zu können – und heute werden die Produkte oft in erster Linie gekauft, um einen Lebensstil zu erwerben. Der trainierte Körper wirbt nicht mehr für Nike, sondern Nike repräsentiert den trainierten Körper. Wurde Kultur irgendwann in den 1960er Jahren wesentlich für den Kapitalismus, so ist sie im Zeitalter der Postmoderne eigentlich ununterscheidbar von ihm. Das Resultat ist nicht nur eine Verdinglichung der Kultur, wie mancherorts beklagt, sondern eben auch eine Kulturalisierung der Dinge. Totalökonomisierung ist eben nicht nur Totalökonomisierung, sondern geht auch mit Totalkulturalisierung einher.

Das trifft zunächst auf nichts so sehr zu wie auf Kleidung. Als Kleidung ist sie Gebrauchsgut, aber als Mode ist sie Lifestyle, also Kulturgut, eine Verwandte der Kunst, was sie heute mit dem Produktdesign, der Architektur und ähnlichen Feldern gemeinsam hat. Aber denken wir einmal darüber nach, woran wir spontan und instinktiv denken, wenn wir an Mode denken.

Was ist Mode?

Zunächst denken wir an etwas zum Anziehen. Aber wir denken an Zeug, das man anziehen kann, das sich von normalen Dingen, die man anziehen kann, doch unterscheidet. Der Kittel der Bäuerin ist auch etwas zum Anziehen, aber er ist nicht Mode. Er ist nützlich. Aber das ist es dann auch schon. Mode ist zunächst ganz simpel etwas zum Anziehen, das wir möglicherweise als schön ansehen. Mode ist etwas zum Anziehen plus ästhetischer Stil. Das ist schon einmal eine minimale Definition. Die Signatur von Mode ist also, dass sie einerseits schon auch „nützlich“ ist, wenn wir jetzt einmal von jenen Spielarten der Mode absehen, die ihre „Nützlichkeit“ nach Kräften verleugnen, wie etwa hochhackige Schuhe, mit denen kein Mensch gehen kann, oder Kleider, die so unbequem sind, dass man sich in ihnen kaum bewegen kann. Aber in aller Regel ist es so: Das modische Kleidungsstück ist durchaus auch etwas zum Anziehen, es hat die simple Nützlichkeit des Kleidungsstückes, das uns wärmt, wenn es kalt ist, oder zumindest bedeckt, wenn es warm ist, aber es hat noch ein paar nicht so vordergründig nützliche Aspekte. Mode bringt einen ästhetischen Stil zum Ausdruck.

Mit der Mode, die wir tragen, wollen wir unseren ästhetischen Stil zum Ausdruck bringen. Wenn wir Prada tragen, wollen wir als ein Typ erscheinen, der Prada trägt – mit all den sanften kulturellen Faktoren, die wir mit Prada verbinden. Wenn wir Vintage-Teile aus den 1970er Jahren tragen, wollen wir damit auch Aspekte unserer Identität sichtbar machen. Wenn wir hippe Sportschuhe von Puma tragen, ebenfalls.

Mode bietet dank der Warenästhetik eine Identifikationsmöglichkeit. Wir, die Konsumenten, können damit unsere Identität zum Ausdruck bringen. Das heißt, Mode ist nützliche Ware, die mit Kultur aufgeladen ist. In kulturskeptischer Attitüde können wir nun sagen, Mode ist dann, wenn ein nützliches Gut mit nicht so nützlichen Aspekten aufgeladen ist. Aber halt! Stimmt das so? Oder ist das schon die Falle einer sehr bescheidenen Definition von Nützlichkeit? Können wir nicht auch so sagen: Es ist nützlich, sich etwas anzuziehen, weil man dann nicht friert, aber es ist auch nützlich, sich etwas anzuziehen, was den eigenen ästhetischen Stil zum Ausdruck bringt, das die Identität, die man haben will, zum Ausdruck bringt, das den Typ darstellt, der oder die man sein will? Diese kulturellen Aspekte haben für den Konsumenten, die Konsumentin sehr wohl ihre Nützlichkeit.

Betrachten wir die Welt der Waren für einen Augenblick generell, nicht nur die der Mode – im Sinne von Bekleidungsmode –, sondern allgemeiner. Die Warenproduktion ist heute in bisher nie dagewesenem Maße kulturalisiert. Wenn wir Kleider kaufen, fragen wir auch den Stil der Kleidung nach. Wenn wir Sportschuhe kaufen, ihren Stil, oder das Image der Marke. Will ich ein Camel-Typ sein? Oder ein Nike-Typ? Oder mehr Hippie? Oder mehr der Geek oder der Bobo mit der schwarzen Hornbrille, die sich vom Kassengestell kaum unterscheiden lassen? Der Apple-Typ? Kaufe ich das neueste iPad wegen seiner technischen Aspekte oder auch wegen des Lebensstils, wegen der Bilder, die es evoziert, wenn man in minimalistisch eingerichteten Appartements lässig rumlümmelt und über den Bildschirm wischt? Oder Autos. Sind Sie eher der Peugeot-, Citroën- oder Fiat-Typ oder doch eher der BMW- oder Mercedes-Typ? Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass man sogar Präferenzen für verschiedene politische Parteien anhand des Autos vorhersagen kann, das jemand fährt (VW-, Fiat- und Opel-Kunden wählen eher links, Mercedes-, Audi- und BMW-Fahrer eher rechts, Peugeot- und Renault-Besitzer überdurchschnittlich häufig grün). Oft haben die Autos das idente Innenleben, generell kann man sagen: Fahren tun die Dinger alle; was sie wirklich unterscheidet ist, abgesehen vom Preis, das kulturelle Image – wobei der Preis eben auch Teil des kulturellen Images ist, denn ein konservativer Banker würde wohl grundsätzlich nicht gerne mit einem Auto gesehen werden, das billig ist.

Von der Waren- zur Imageproduktion

Damit sind wir schon bei einer nicht unwesentlichen Tatsache der zeitgenössischen Warenproduktion, die für die Totalkulturalisierung der Ökonomie ganz entscheidend ist: Die funktionale Seite der Waren wird heute vorausgesetzt. Dass ein MP3-Player Musik abspielt, davon gehen wir aus. Dass ein Auto fährt, davon gehen wir ebenfalls aus. Dass ein Kleidungsstück wärmt, ebenso. In dieser Hinsicht, in funktionaler Hinsicht, unterscheiden die Waren sich doch in keiner Weise. Worin sie sich aber unterscheiden, sind ihre kulturellen Aspekte. Oder, um das exakt zu sagen, um das aus der Perspektive der Firma, die eine Ware herstellt zu sagen: Wenn ich die Dinge in funktionaler Hinsicht kaum mehr unterscheidbar halten kann, dann muss ich sie umso mehr in kultureller Hinsicht unterscheidbar halten. „Heute“, schreibt der britische Marketingguru Wally Olins, „setzen wir die funktionellen Charakteristika eines Produkts einfach als garantiert voraus, was die Marke auszeichnet, ist ihr Image.“ Werber sprechen von der „Verschiebung der Warenproduktion zur Imageproduktion“.

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Das betrifft die starken Marken, aber natürlich nicht nur sie. Die No-Name-Produkte ebenso. Das Vintage-Teil. Das Fair-Trade-Produkt. Betrachten wir das Ganze aber nun aus der Perspektive des Konsumenten. Und da wir alle Konsumenten sind, sogar dann, wenn wir uns ostentativ die Kommerzkultur vom Leib halten wollen, heißt das: Aus der Perspektive von Ihnen oder von mir. Wenn wir Waren kaufen, kaufen wir also nicht nur das mit, was sie kulturell repräsentieren – wir kaufen in erster Linie die Ware als Kulturware. Weil sie, wie wir in einem solchen Fall womöglich sagen, „zu uns passt“ – oder wir zu ihr passen. Genauer: Weil wir uns gerne als jemanden sehen wollen, zu dem sie passt – oder weil wir gern so jemand werden wollen.

Nun könnten wir einwenden: Das trifft vielleicht für Konsumtrottel zu, für Kommerzidioten, dass sie tatsächlich glauben, sie würden auf irgendeine Weise jemand anders, wenn sie nur die entsprechenden Waren kaufen oder Kleidungsstücke tragen. Das Raffinierte ist allerdings: Wenn Sie kein Konsumtrottel sein wollen, wenn Sie zeigen wollen, dass Sie kein Konsumtrottel sind, dass Ihre Identität ist, kein Konsumtrottel zu sein – dann gibt es für Sie auch die passenden Waren im Angebot. Fair Trade. Die schönen Dinge, wie sie Manufactum verkauft. Mode Retro. Die Vermarktung des Schäbigen. Das besonders ausgefallene Teil, das signalisiert, dass Sie anders sind als die anderen. Individualtourismus statt Massentourismus. Was immer Sie sein wollen, ja, auch wenn Sie ein besonders kapitalismus- oder kommerzkritischer Typ sein wollen, die passende Ware gibt es für Sie im Angebot, möglicherweise müssen Sie etwas nach ihr suchen, wahrscheinlich aber eher nicht, denn es gibt doch praktisch jeden Lebensstil von der Stange weg zu kaufen. Und gerade wenn Sie lange suchen müssen, dass ausgefallene Teil nur in Läden zu haben ist, die Insidern bekannt sind, oder die Reisedestination schwer zu erreichen ist, so sind Sie dann vielleicht sogar ein besonders exquisiter Konsumtrottel, weil Sie erhebliche Mühen in Kauf nehmen, um die Güter und Dienstleistungen zu erhalten, mit denen Sie ausdrücken können, dass sie ein extrem individualistischer Typ sind.

All das ist keine Kleinigkeit, und wir sind darauf getrimmt, wir haben uns darauf getrimmt, instinktiv darauf zu reagieren. Stellen wir uns vor, wir sitzen in einem Café und ein Mann kommt die Türe herein: Typus schwarze Hose, schwarzer Rolli, schwarzes Sakko, schwarze Hornbrille. Neben ihm eine Frau, rosa Jäckchen. Weiße Hose, mit Glitzer besetzt. Goldenes Handtäschchen. Oder, andersrum: Frau mit hippem Anorak und Pumaschuhen und neben ihr der gegelte Rolex-Typ. Wir würden uns im selben Augenblick fragen: Kann das gut gehen? Eine Beziehung zwischen den beiden ist doch ein clash of civilisations! Solche spontanen Urteile sind uns längst in Fleisch und Blut übergegangen. Mesalliancen, das waren früher unmögliche Verbindungen von Menschen unterschiedlicher Stände, heute eher von Menschen, die einen sichtbar widersprechenden persönlichen Stil pflegen.

Der Kulturtheoretiker Wolfgang Ullrich erzählt in seinem Buch „Habenwollen“ die hübsche Episode einer Kunstaktion in München. Ein schöngeistiger Unternehmer lädt dort regelmäßig Künstler zu „etwas anderen“ Installationen ein – sie sollen seine Wohnung für einen Abend zu einer Galerie machen. Die Künstlerin Stephanie Senge stellte ihren Abend unter das Motto „Hurra, wir ziehen zusammen“ und räumte Gebrauchsgegenstände aus ihrer Wohnung in die Regale des Kaufmanns. In der Küche: ihre Tassen neben denen des Gastgebers. Im Bad: ihre Zahnbürste und Hygieneartikel. Überall: eine wilde Mischung. Der Kaufmann hat ein Faible für Minimalismus, die Künstlerin steht auf grelle Farben und fröhliche Formen. Sofort fragten sich die Gäste, wenn auch in diesem Fall spielerisch: Kann das gut gehen? Können zwei derart unterschiedliche Menschen zusammenpassen? Damit hatte die Künstlerin ihr Ziel schon erreicht. Die Zuschauer richteten ihr Augenmerk auf den „weichen“ Lifestyleaspekt der Sachen, getragen von der Überzeugung, wie Ullrich schreibt, „dass in den Dingen, mit denen sich Menschen umgeben, ihre Persönlichkeit zum Ausdruck kommt“.

Das Wesentliche ist heute, ein Ding mit einer Erzählung zu versehen – es hip zu machen. Ist er „Kult“, dann läuft er, der Turnschuh. Ist es nicht „Kult“, dann liegt das beste Produkt wie ein Ziegelstein im Regal. Die Dinge zusammenzunähen, ist das unwesentlichste an der gesamten Operation. Für das emotionale Drumherum sorgen die „Branding“-Experten. Und für jede Lifestyle-Community gibt es ein hübsches Set solcher Produkte im Angebot, die von Kulturtheoretikern identity goods genannt werden, also Güter, mit denen der Konsument sein Ich modelliert: vom Puma-Turnschuh für den coolen Hedonisten (der seine Prise Dagegensein kultiviert) bis zum Kampfhund, dem unvermeidlichen Lifestyleaccessoire für Muskelpakete mit Street-Credibility, vom Wolfskin-Jacket für den ostentativen Naturburschen über das Camel-Schuhwerk für den harten Typen bis zu den American-Apparel-Shirts für den politisch korrekten Konsumenten oder dem Retro-Teil für den „Authentizitätskonsumenten“. Und so weiter. Soll heißen: Wir sind, was wir kaufen. Ein bisschen erschreckend ist das schon. Wer will schon die Summe der von ihm konsumierten identity goods sein? „I shop therefore I am“ – „Ich shoppe also bin ich“ – hieß eine mittlerweile legendäre Aktion der Künstlerin Barbara Kruger.

Ich bin, was ich kaufe?

Aber was heißt das denn eigentlich genau? Ich bin, was ich kaufe? Das heißt doch, wir sind von Grund auf von Waren konstituiert, der Kapitalismus ist in uns drin, er steckt in uns drin, in unserem innersten Ich. „Der ist da drin, ich krieg das Kapital nicht raus“, rufen die Figuren in den postdramatischen Theaterstücken von René Pollesch. Wir sind eigentlich, essenziell nichts, weiße Blätter, deren Charakter von Identitätsgütern geformt wird, unser Individuellstes wird von kapitalistischem Lifestyle-Marketing überschrieben.

Aber vielleicht ist das ja auch übertrieben. Ganz sicher sogar. Wir wissen doch ebenso instinktiv: So schlimm ist das ja in der Wirklichkeit auch wieder nicht. Selbst wenn ich mein Ich erst über Konsum konstituiere, habe ich in der Realität doch meist relativ klare Vorstellungen darüber, wer „ich“ in etwa sein will (auch wenn es trügerische Vorstellungen sind, deren Urheber nicht ausschließlich ich bin), und die Waren hindern mich in der Regel nicht etwa daran, sondern können mir sogar dabei helfen. Deshalb die durchaus erfreuliche Behauptung der Soziologin Eva Illouz, die sich intensiv mit dem Wechselspiel von Warenästhetik und Psychostruktur beschäftigt hat: „Die Waren behindern und unterdrücken das Ich nicht, sondern dienen vielmehr als nützliches Hilfsmittel für dessen dramatische Steigerung.“ Da die Auswahl an Waren tendenziell unbegrenzt ist, haben wir vielerlei Accessoires zur Hand, die noch die detaillierteste Modellierung unseres Ichs zulassen.

Natürlich wäre es auch etwas vorschnell, zu sagen, dass der Konsument Produkte ob ihrer Warenästhetik erwirbt, weil diese zu seinem persönlichen Lebensstil passen, gewissermaßen zu seinem Selbst. Nicht zu Unrecht weist Gerhard Schulze darauf hin, dass „das Selbst zumindest teilweise über ästhetische Handlungen erst konstruiert wird und sich mit dem Stil ändert“. Das Selbst ist also nicht vor den Produkten da, sondern wird mit deren Hilfe erst modelliert. Aber auch das muss nicht gar so tragisch sein: Dass wir nie die alleinigen Autoren des eigenen Lebensskripts sind, diese narzisstische Kränkung wird der Mensch aushalten müssen – ob er sein Ich nun mit Hilfe von verkehrt herum getragenen Baseball-Mützen oder durch die Lektüre von Sartre und Camus modelliert (und sich hinterher einen schwarzen Rollkragenpulli kauft), er wird in aller Regel nicht der Erste sein, und sein Ich wird with a little help anderer Ichs konstituiert. Die Dinge sind nicht so eindeutig, sondern eher ambivalent: Einerseits wissen wir schon in etwa, wer wir sein wollen, und die Kulturwaren, mit denen wir uns umgeben, die Mode, die wir tragen, dient, wie Illouz meint, der dramatischen Steigerung, sie sind so etwas wie eine Unterstreichung; andererseits ist unser Ich niemals vor den Waren da, und wird eben, wie Schulze betont, durch die Waren erst produziert. In der wirklichen Welt ist beides „irgendwie“ wahr.

Um das an einem Exempel zu zeigen: Vielleicht würden Sie von sich sagen, Sie seien ein romantischer Typ. Das heißt, Sie mögen Candle-Light-Dinners, oder Sie schenken, wenn Sie ein Mann sind, Ihrer Freundin gern eine rote Rose, oder Sie träumen davon, mit Ihrem Lover nach Venedig zu fahren. Oder nach Paris. Aber woher wissen Sie eigentlich, dass Candle-Light-Dinners, Rosen und Venedig Träger des Attributs Romantik sind? Kommt diese Idee aus Ihrem Inneren? Oder kommt sie aus den Filmen, die Sie gesehen haben, haben Sie das irgendwo gelesen, oder schöne Fotos davon in Hochglanzmagazinen gesehen? Fotos, ohne die Sie nicht einmal wüssten, dass es so etwas wie Romantik gibt. Erschreckend, oder? Andererseits: Das romantische Candle-Light-Dinner kann ja trotzdem schön sein, auch wenn Sie nicht einmal wüssten, dass es Candle-Light-Dinners gibt und diese Romantik repräsentieren, wenn die Kulturindustrie es Ihnen nicht eingeredet hätte. „Ich schlief gerne mit April“, berichtet Jolo, der Protagonist aus Joachim Lottmanns Pop-Roman „Die Jugend von heute“ über die sexuelle Routine mit seiner Freundin, „auch wenn jede Bewegung, jede Geste, jede Sekunde von der Werbung und von den Medien vereinnahmt war und somit nicht mehr mir gehörte. Ich lieh mir diese Stunden von der Werbung, und sie gefielen mir trotzdem.“ Etwas simpler formuliert: Wir tun alle dauernd Dinge, die wir uns nicht selbst ausgedacht haben, sondern wir folgen bis in die kleinste Geste hinein kulturellen Skripts, aber das trübt doch keineswegs die Freude am Leben.

Zurichtung des konsumistischen Subjekts

Der zeitgenössische Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass wir zu einer Ware immer auch etwas dazu bekommen: ein gutes Gefühl, ein Erlebnis, Moral, Kultur, was auch immer. Das muss, wie wir gesehen haben, nicht grundsätzlich schlecht sein. Aber wir bekommen, alles in allem, damit auch den „Konsumismus“ dazu, und das muss nicht immer gut sein. Wenn wir die Sache in all ihren Aporien betrachten wollen, dürfen wir natürlich auch unsere Augen nicht vor der „konsumistischen Mentalität“ verschließen. Will man diese Mentalität des „Homo Shoppensis“ beschreiben, dann stößt man schnell auf oft erwähnte Charakteristika, die da wären: diese schwer definierbare Unersättlichkeit, der Umstand, dass der Erwerb nicht satt macht, sondern nur den Appetit anregt; jene Art des Begehrens, wie sich im Anschluss an den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan sagen ließe, die das begehrte Objekt nie in Besitz zu bringen vermag; den „Kaufoholismus“, das Steigerungskalkül und die vielen Strategien, den „Lustgewinn“ auf Dauer zu stellen, wie man sie ansonsten eher aus der Drogenszene kennt; der Drang, das Neue durch das Neueste zu ersetzen, der Erlebnishunger, der alle sozialen Aktivitäten durchzieht – nicht nur Shopping im engen Sinn.

Jedes soziale Verhalten trägt schon das Kainsmal der Konsumorientierung auf der Stirn. Es ist nicht schwer, die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Sucht nach immer neuen Produkten und dem Hunger etwa nach Liebeserlebnissen auszumachen, beruht doch, wie Eva Illouz schreibt, der „Konsum auf dem Drang nach Erregung, denn der Kauf und die Erfahrung neuer Waren sind eine Quelle der Freude, und die Affäre befriedigt mit all der Erregung eines neuen Liebhabers diesen Drang ebenso“. Wie viel von dieser Gier nach Neuem ist, salopp gesagt, anthropologische Konstante, wie viel ist Zurichtung des konsumistischen Subjekts? Und ist der Trancezustand in den frühen Phasen einer neuen Affäre nicht vergleichbar mit dem, in den das „Fashion Victim“ – früher hätte man gesagt: der „Modenarr“ – beim Shoppen verfällt? Die Neuheit selbst ist, in den Worten des amerikanischen Ökonomen Tibor Scitovsky, also offenbar „eine äußerst wichtige Quelle der Bedürfnisbefriedigung“. Bevor man beginnt, darüber deprimiert den Kopf zu wiegen, sollte man einen Moment innehalten: Ist das nicht auch Ausdruck von Neugier, regt das Neue nicht die Fantasie an, auch die banalste Neuigkeit wie ein neuer MP3-Player? Der Soziologe Richard Sennett jedenfalls, der gewiss der leeren Affirmation an die kalte Welt der Dinge unverdächtig ist, tendiert eher zu einer solch positiven Sicht der Dinge: „Vielleicht hat auch das Gefühl etwas Befreiendes für sich, die noch durchaus brauchbaren Dinge und Vorgehensweisen seien verbraucht und ausgeschöpft. Ist es denn etwa keine Befreiung, wenn wir im Geiste über Dinge hinausgehen, die wir unmittelbar kennen, benutzen oder benötigen? Konsumleidenschaft ist vielleicht nur eine andere Bezeichnung für ‚Freiheit‘“, meint Sennett. All das spielt sich vor dem Hintergrund eines konsumgetriebenen Kapitalismus ab, der die Nachfrage der Konsumenten braucht – der zahlungskräftigen und der weniger zahlungskräftigen. Wer in materieller Kargheit lebt, der hat nicht bloß Mangel an materiellen, sondern auch an symbolischen Gütern zu erleiden; er versucht aber, zumindest einigermaßen, mitzuhalten. Richard Wilkinson und Kate Picket haben das in ihrer Studie „Gleichheit ist Glück“ folgendermaßen beschrieben: „Man kennt die jungen Arbeitslosen, die viel Geld für ein neues Handy ausgeben, weil sie glauben, dass sie sonst keine Chance in ihren Kreisen haben – wusste doch schon Adam Smith, dass man sich in der Öffentlichkeit kreditwürdig zeigen muss und keinesfalls in den Geruch von Armut und Schande geraten darf.“ Dinge nicht zu besitzen, ist also mit Scham verbunden, möglicherweise wäre es der soziale Tod. George Orwell beobachtete in seinen Untersuchungen über die von Armut und Wirtschaftskrise gebeutelten Bergbauregionen Nordenglands, dass man überall gut angezogene Leute trifft, die möglicherweise sogar Hunger in Kauf nehmen, um auf ein paar Accessoires sichtbaren Wohlstandes nicht verzichten zu müssen. „Sie senken ihre Ansprüche nicht unbedingt in dem Sinn, dass sie auf Luxusartikel verzichten (…) öfter ist es umgekehrt – und natürlicher, wenn man es sich recht überlegt. (…) Man hat vielleicht nur drei Halfpence in der Tasche, überhaupt keine Zukunftsaussichten und als Zuhause nur eine Ecke in einem undichten Schlafzimmer; aber man kann in seinen neuen Kleidern an der Straßenecke stehen und sich in einem privaten Tagtraum als Clark Gable oder Greta Garbo vorkommen, was einen für eine ganze Menge entschädigt.“ Orwell hielt es keineswegs für frivol, lieber beim Essen als bei der Mode zu sparen, sondern beinahe als Ausdruck von Lebenswille: Wer in einer von Stil und Statuskonsum geprägten Gesellschaft den Willen aufgibt, mitzuhalten, der gibt sich gewissermaßen selbst auf.

Aber es muss natürlich auch gefragt werden, was die Konsumkultur mit unseren Städten macht – Shopping Malls unter freiem Himmel –, ebenso, auf wessen Kosten das westliche Konsummodell geht. Überhaupt die Verbreitung des westlichen Lebens- und Konsumstils, was ein bisschen kolonialistisch riecht, aber mit Kolonialismus nicht präzise genug beschreibbar ist, weil der westliche Lifestyle nicht nur etwas ist, was anderen „Kulturen“ aufgezwungen wird, sondern von diesen auch begehrt wird. Er hat ja einen unübersehbaren Magnetismus, aber auch deshalb, weil gerade der globalisierte westliche Lebensstil eine Hybridität ist und sich viele Stile einverleibt, aber sie damit auch kannibalisiert, sie aussaugt, vampirisiert, sie zum Dekorativen macht. Er ist ein einziges Modell und macht die Welt in gewisser Weise einförmig, aber auch das wäre schon wieder zu simpel gesagt, weil wir gesehen haben, dass es nicht den Lifestyle gibt, sondern viele Lifestyle-Communities, also Heterogenität, mit der der Kapitalismus sehr gut leben kann, ja, die er sogar braucht, die nennt er dann unterschiedliche Zielgruppen, und für alle unterschiedlichen Zielgruppen hat er Waren im Angebot. Ohnehin war es ja immer ein kulturkritisches Vorurteil, dass der Kapitalismus die Welt einförmig macht, denn mindestens auf gleiche Weise differenziert er sie aus. Konformismus im klassischen Sinne gibt es nicht mehr, Gesellschaften zerfallen faktisch in Lifestyle-Communities, und jede dieser Subgruppen und Subkulturen ist, wie man das in der Sprache des Marketings nennt, ein Absatzmarkt.

Die einzelne Kulturware kann Schönheit, Romantik, Verwegenheit – was auch immer – ins Leben bringen, aber der Konsumkapitalismus spannt ein schier totalitäres Netz, in das sich die Individuen verfangen. Dass er das mit den Mitteln der Verführung tut, macht ihn nur effektiver. Man kann in kulturpessimistischer Absicht auch, wie das Pier Paolo Pasolini in seinen „Freibeuterschriften“ tat, von einer regelrechten „anthropologischen Mutation“ sprechen – für Pasolini hat das westlich-hedonistische Kulturmodell die Menschen gleichsam ummontiert, bis ihre gesamte „körperlich-mimetische Sprache“ lautete: „Die herrschende Macht hat beschlossen, dass wir alle gleich sein sollen.“ In jedem Fall ist eine „konsumistische Mentalität“, die im Shopping ihre paradigmatische Aktivität findet, unbestreitbar. Der kommerzielle Kapitalismus ist ein „Raumverdränger“ von der Art, wie er in Peter Handkes Stück „Zurüstungen zur Unsterblichkeit“ auftritt. Über die Raumverdränger heißt es da: „Wo sie auftreten, wollen sie das Sagen haben und verdrängen mitten im Frieden den Raum.“

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