Let’s zwist again!

Nicht nur Wahlkämpfe wirken heute wie Stammeskriege. Die politischen Lager gleichen „moralischen Stämmen“, die nur mehr aufeinander einprügeln. Warum gibt es heute so viel Polarisierung und so wenig Konsens?

Die Zeit, August 2019

Während der Großen Koalition, meinte ein ironischer Geist einmal, war die Regierung zerstritten, während der Türkis-Blauen-Allianz dagegen die Bevölkerung. Irgendwie sei ihm der Hader unter Politikern lieber gewesen als der Zwist unter 8 Millionen Bürgern. Die anekdotische Pointe lebte natürlich von einer Behauptung, die heute sowieso als gesichertes Wissen gilt, nämlich: dass es eine wachsende Polarisierung gäbe – nicht nur bei uns, sondern beinahe überall.

Dafür gibt es sehr viel anekdotische Evidenzen, aber auch ein paar handfeste Daten. Wenn einander deutlich konturierte weltanschauliche Kandidaten gegenüber stehen, wird die politische Debatte auch gehässiger. Nur ein Beispiel: Eine Präsidentschaftskampagne zwischen Heinz Fischer und Benita Ferrero Waldner (wie 2005) bietet weniger Stoff für leidenschaftlichen Hader als eine zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer. Im ersteren Fall zieht man einen der Kandidaten vor, im zweiteren Fall ist die Zahl derer, die den jeweiligen anderen Kandidaten innbrünstig ablehnen, deutlich höher. Das zeigt sich dann auch nach den Wahlen: van der Bellen hatte bis ins Frühjahr eher magere Zustimmungswerte. 30 Prozent fanden ihn sehr gut, 13 Prozent gut – das waren bloß 43 Prozent, also weniger, als ihn gewählt haben. Die Wähler und Wählerinnen, die einen Kandidaten ablehnen, bleiben bei dieser Ablehnung. Erst sein Handling der Regierungskrise trieb die Zustimmungswerte in jene Höhen, die üblicherweise ein Präsident nach gewonnener Wahl hat.

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Dass die „normalen“ Wähler deutlich polarisierter sind als in früheren Zeiten zeigen auch einige Untersuchungen aus den USA. 2012 sagten noch weniger als die Hälfte aller Wähler, dass sie den Kandidaten jener Partei, die sie nicht wählen würden, aus tiefstem Herzen ablehnen. 2016 meinten das 70 Prozent der Wähler. Nun kann das natürlich an den Kandidaten selbst liegen: Dass Donald Trump mehr Ablehnung auslöst als etwa John McCain wäre einleuchtend. Aber zunehmend wird die Ablehnung einer Partei auch zur Ablehnung der Wähler dieser Partei. 2016 meinten fast die Hälfte aller republikanischen Wähler, dass Demokraten „faul“, „unehrlich“ oder „unmoralisch“ wären, während sogar 70 Prozent der Demokraten meinten, „Republikaner sind engstirniger als andere Amerikaner“. Ein Drittel hielt sie für „unmoralisch“ oder einfach für „unintelligent“. Das heißt: Das Volk ist zunehmend gespalten, bis ins Private hinein. Hielt man früher den Nachbarn, der eine andere Partei wählte, oft für einen „guten Kerl“, so hält man ihn heute für einen Trottel.

Studien zeigten auch, dass Menschen sehr viel häufiger, oft sogar mehrmals täglich das Gefühl von „Zorn“ entwickeln. Das mag an Social Media liegen und an der wachsenden Häufigkeit, mit der man mit Nachrichten konfrontiert ist, die eine wütend machen. Aber die Ursachen sind ja egal: Wer häufiger „Zorn“ verspürt, wird chronisch „zorniger“.

Nun sollte man sich wahrscheinlich auch nicht täuschen lassen. Die Welt besteht nicht nur aus ultrapolitisierten Menschen, die auf die jeweils andere Seite zornig sind. Viele Menschen interessieren sich gar nicht für Politik, oder sie haben auch Meinungen, die zwischen den Polen angesiedelt sind, etwa in der Migrationspolitik. Da gibt es genug Menschen, die etwa fleißige Migranten aus der Türkei, Serbien, der Slowakei und den syrischen Nachbarn sehr schätzen, und zugleich meinen, bestimmte Flüchtlinge, kommen nur hier her und halten die Hand auf – die aber diese wiederum von jenen Flüchtlingen unterscheiden, denen einfach geholfen werden muss, weil sie arme Leute seien. Die meisten Meinungen sind wohl in diesen „Graustufen“ angesiedelt. Selbst rechte Wähler sehen sich selbst oft als „ein bisschen links, ein bisschen rechts“.

Eine Voraussetzung für politische Polarisierung wäre sowieso, dass sich die Menschen stärker für Politik interessieren. Das ist auch tatsächlich der Fall, wie unlängst im Rahmen der „Europäischen Wertestudie“ eine Untersuchung über den Wertewandel in Österreich heraus fand: 1990 beteuerten noch 46 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen, dass sie sich kaum oder überhaupt nicht für Politik interessieren, 2018 war dieser Wert auf 41 Prozent gefallen.

Eine der großen Paradoxien der Polarisierungsdiagnose besteht darin, dass der Hader mit dem Aufschwung rechtspopulistischer Parteien einher geht – obwohl deren Werte eigentlich von immer weniger Menschen geteilt werden. Zwar ist die Ablehnung von Muslimen seit 2000 in Österreich ziemlich gleich geblieben (mit einigen Ausschlägen zwischendrin), aber 2000 haben noch 42 Prozent der Befragten gesagt, sie hätten nicht gerne Homosexuelle als Nachbarn – heute sagen das nur mehr 13 Prozent. 2008 fanden es noch 39 Prozent der Bürger und Bürgerinnen als wichtig, in Österreich geboren zu sein, um österreichisch zu sein – heute sagen das nur mehr 24 Prozent, also signifikant weniger. Auf die Frage: „Wenn Arbeitsplätze knapp sind sollen Arbeitgeber Österreicher gegenüber Ausländer vorziehen“, antworteten 1990 noch 78 Prozent zustimmend, 2018 nur mehr 52 Prozent.

Gerade weil progressivere, liberalere Grundhaltungen an Boden gewinnen, gibt es Polarisierung – das ist auch die Botschaft des deutschen Politologen Christian Welzel. Seit Jahren erstellt er in einem internationalen Netzwerk von Kollegen den „World-Values-Survey“, und praktisch für alle Länder der Welt gilt – von den USA über Deutschland, Österreich bis zu Autokratien wie die Türkei und Russland –, dass Multikulturalität mehr akzeptiert wird, die Religiosität abnimmt, Schwule und Lesben akzeptierter sind und generell emanzipatorische Ideen verbreiteter. Welzel: „Gerade weil die Basis der Wertkonservativen schrumpft, gerade weil ihre Zahl sinkt, verschärft sich ihr soziales Profil, und sie sind für Rechtspopulisten besser ansprechbar.“ Weil sie das Gefühl haben, nicht mehr die zentralen Normen der Gesellschaft zu repräsentieren, wächst ihre Wut. „Die Leute sind heute weiter voneinander entfernt, wenn es zum Beispiel um die Anerkennung von Themen wie Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Ehe geht. Die Moralkonflikte haben eine stärkere Brisanz bekommen, weil die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten stärker polarisiert sind.“

Früher gab es auch Polarisierung, man vergesse nicht den Hass „der Schwarzen“ auf „die Sozis“ und vice versa, aber in vielen lebenskulturellen und Werte-Fragen war sich das Elektorat beider Parteien näher, in Familienwerten, Erziehungsfragen, Konformismus und Konventionen. Heute driften die verschiedenen gesellschaftlichen Segmente viel mehr auseinander. Welzel spricht von „zwei moralischen Stämmen“, die aufeinander einprügeln.

Das Eigentümliche an der Polarisierungsdiagnose ist, denkt man darüber einige Zeit nach, dass vor gar nicht so langer Zeit ja eigentlich das Gegenteil behauptet wurde: dass sich die Parteien immer ähnlicher werden, es kaum mehr nennenswerte weltanschauliche Differenzen gäbe und das politische Leben in einer einzigen großen Konsenssoße ersticke. Aber vielleicht hängt beides ja miteinander zusammen: Weil es nicht mehr die großen kontroversen Themen gibt, wie zu einer Zeit, als über SPÖ-Sozialismus versus ÖVP-Katholizismus oder um „mehr“ oder „weniger“ Sozialstaat gestritten wurde, werden Werte und Lebensstilfragen politisch entscheidender. Aber gerade in diesen Wertefragen ist es viel schwieriger, Kompromisse zu finden. Bei Konflikten um die Arbeitszeitregelung kann man sich in der Mitte treffen – aber bei Wertefragen?

Bei Familientreffen fliegen die Fetzen, Freundschaften zerbrechen, überall zieht Hader ein – das ist jedenfalls ein Eindruck, den viele Menschen haben. Oder, dass man über bestimmte Fragen einfach nicht einmal mehr redet, um Streit zu vermeiden.

Dabei haben aber auch viele Menschen das Gefühl, dass etwas mehr Konsens gut täte – gerade in einem Land wie Österreich, das immer eine Konsenskultur hochhielt und in dem das geflügelte Wort viel galt, dass „durchs Reden die Leut z’samkommen“. Der Konsens ist dem Kompromiss sehr verwandt, und beide sind mal gefeiert, mal verdammt. Einen „Buh-Hurra-Begriff“ nennt das der israelische Philosoph Avishai Magarlit. Weil zweierlei Assoziationen mitklingen – „die positive Vorstellung, die auf menschliche Kooperation verweist, verwoben mit einer negativen Vorstellung, die den Verrat an hochgesinnten Prinzipien signalisiert. Kompromisse gelten manchmal als Ausdruck guten Willens, und bei anderer Gelegenheit empfindet man sie als Wischiwaschi.“

Gerade wenn der Hader überhand nimmt, könnte die Sehnsucht nach Konsens wieder durch schlagen. Die Zustimmungswerte, die die betont sachliche Übergangsregierung faktisch vom ersten Tag an hatte, könnten so interpretiert werden. Als Brigitte Bierlein zur Kanzlerin ernannt wurde, mit unaufgeregt-professionellen Spitzenjuristen und Spitzendiplomaten von Clemens Jabloner bis Alexander Schallenberg an ihrer Seite, schossen die Werte quasi über Nacht in die Höhe. 57 Prozent sagten, diese Regierung sei „gut für das Land“.

Eine Umfrage unter Wiener Wählern ergab, dass die Meinung „Wir brauchen in Österreich mehr Zusammenarbeit“ bei 62 Prozent auf heftige Zustimmung stieß. Beweis ist das natürlich keiner – denn wer würde auf so eine Frage schon mit „Nein“ antworten? Gibt es aber eine Sehnsucht nach mehr Konsens?

Meinungsforscher Günter Ogris will das nicht bestätigen. Gerade wenn man sich für Politik interessiert und viel Zeit hat – etwa in der Rente –, dann steigert sich sogar das Interesse an Hader. „Wenn die Fetzen fliegen, dann ist das für die Menschen sogar eine Unterhaltung. Und die Aufmerksamkeit dafür nimmt zu.“

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