„Widerstand ist nie hübsch“

Tariq Ali über die linke Hoffnungszone Lateinamerika, Chavez’ Geistesverwandtschaft mit Bruno Kreisky und Willy Brandt, den Aufstieg des Islamismus und die Wandlung mancher seiner Ex-Weggefährten zu Stichwortgebern des Imperialismus. Falter, November 2006

 

Sie haben gerade ein Buch über Lateinamerika geschrieben. Lateinamerika ist ja neuerdings wieder Hoffnungszone der Linken: Es gibt nicht mehr nur Kuba, es gibt Hugo Chavez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien…

 

Tariq Ali: …und in Nicaragua wurde Daniel Ortega gerade wieder zum Präsidenten gewählt!

 

Gibt es da also einen neuen antiimperialistischen Moment?

 

Ali: Die Lateinamerikaner nennen es einen neuen bolivarischen Moment. Simon Bolivar hat diesen Kontinent vor zweihundert Jahren geeint und das spanische Imperium zurückgedrängt. Nun geschieht ähnliches, demokratisch, ohne Krieg, ohne Schlachten: das Imperium, das die Spanier ablöste, wird zurückgedrängt.

 

Also die USA…

 

Ali: Ein ganzer Kontinent gerät in Bewegung. Das vielleicht Wichtigste daran: Es ist ein Kontrast zu dem Chaos im Nahen Osten. Denn im Nahen Osten ist es so: Auch dort, wo es Widerstand gibt, in Afghanistan, im Irak, im Libanon, in Palästina, da hat dieser Widerstand keine soziale Vision. Er kämpft, damit die Besatzer das Land verlassen – das ist fein, aber soziale Vision hat dieser Widerstand keine. In Lateinamerika dagegen ersteht die soziale Vision wieder.

 

Was ist das für eine soziale Vision?

 

Ali: Zugegeben, sie ist moderat. Wir sollten nicht übertreiben. Es ist die Vision, die historisch die Vision einer linken Sozialdemokratie war. Chavez, Morales, Ortega – sie gehen darüber nicht hinaus und werden darüber nicht hinaus gehen. Sie bekämpfen den Neoliberalismus mit klassischen sozialdemokratischen Mitteln. Nur: Heutzutage sind die unakzeptabel für die neoliberale Welt, deshalb werden sie mit allen Mitteln verfolgt. Was in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg normal war, ist heute nicht mehr erlaubt.

 

Hugo Chavez gibt den Caudillo, den Revolutionsführer im Drillich – und Kuba ist ja auch nicht das Modell des demokratischen Sozialismus…

 

Ali: Was ist das Modell des demokratischen Sozialismus? Österreich? Lateinamerikas neue Führer versuchen, etwas Positives für die Armen in ihrem Kontinent zu tun, mit den limitierten Mitteln, die sie zur Verfügung haben.

 

Vor autoritären Versuchungen haben Sie keine Angst?

 

Ali: Chavez wurde fünf Mal gewählt. Fünf Mal. Zugegeben, er wirkt wie einer dieser Führer, die Lateinamerika üblicherweise produziert – aber normalerweise werden sie nicht gewählt. Normalerweise putschen sie sich an die Macht, normalerweise gewinnen sie in Revolutionen. Er hat das nicht gemacht. Er respektiert die Opposition im Land, die gesamte private Presse ist gegen ihn, aber er lässt sie gewähren. Ist das autoritär?

 

Er schaut nur wie ein Caudillo aus?

 

Ali: Ich kenne ihn ziemlich gut, ich habe ihn oft getroffen. Er ist einer der intelligentesten Politiker, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. In Europa hatten wir in der Nachkriegszeit eine Reihe von Politikern gehabt, die sehr klug waren, auch wenn ich mit ihnen oft nicht einer Meinung war. Harold Wilson, der britischen Premier, Olof Palme, Willy Brandt, Charles de Gaulle, und – natürlich – Bruno Kreisky in ihrem Land…

 

Chavez ist mit denen vergleichbar?

 

Ali: Ich würde so sagen: Es gibt einen neuen Typus lateinamerikanischer Politiker, der mich an diesen europäischen Politikertypus erinnert. Chavez liest enorm viel, Romane, Sachbücher, Lyrik. Seine Eltern waren beide Lehrer, sie haben ihn die Liebe zu Büchern gelehrt. Gerade hat der venezuelanische Staat Cervantes’ Don Quichotte in millionenfacher Auflage gedruckt und jedem Haushalt zugestellt. Als man Chavez fragte, ob er wirklich glaubt, dass die Leute das lesen, sagte er, er wisse es nicht, aber es befände sich zumindest ein Buch in dem Haus, und vielleicht liest es dann einmal ein Kind oder ein Enkelkind. Das ist sehr bemerkenswert. Klar, er ist ein lateinamerikanischer Politiker – damit entstammt er einer bestimmten politischen Kultur und hat eine Reihe von deren Qualitäten und auch ein paar von deren Defekten. So ist das nun einmal.

 

Sie haben davon gesprochen, dass Lateinamerika gewissermaßen das Kontrastmodell zum Nahen Osten ist. Im Nahen Osten wurde der Antiimperialismus von der Religion, vom Fundamentalismus regelrecht gekapert. Ziemlich deprimierend, oder?

 

Ali: Wenn ein Land besetzt ist, dann entwickelt sich früher oder später Widerstand. Wir können uns nicht aussuchen, wie dieser Widerstand aussieht. Zumal der säkulare Widerstand ausgerottet ist, nicht ohne Zutun der USA übrigens, die das im Bündnis mit den Islamisten während des Kalten Krieges besorgten.

 

Haben die säkularen Kräfte eine Chance?

 

Ali: Nicht so bald, nicht im Nahen Osten. Wir müssen durch diese Phase durch. Ich denke, unglücklicherweise ist es so, dass die Leute die Erfahrung machen müssen, wie es ist, wenn die religiösen Typen an der Macht sind. Nur ein Land ist die Ausnahme: der Iran. Wenn der Westen das Land in Ruhe lässt, können wir mit positiven Entwicklungen rechnen. Dort sind 75 Prozent der Bevölkerung unter 35, sie kennen nichts anders als ein Leben unter den Klerikern. Sie haben die satt. Nur, wenn der Westen das Land bedroht, wird es einen nationalistischen Reflex geben. Also, Hände weg!

 

Gibt es eine Chance auf eine islamische Reformation?

 

Ali: Ja, vielleicht kommt so etwas im Iran. Vielleicht gibt es aber auch einen totalen säkularen Aufstand, der die Religion zurückdrängt.

 

 

Nur, wenn man heute den Widerstand in diesen Ländern unterstützt, dann steht man schnell Seite an Seite mit Gruppen wie Hamas oder Hisbollah. Fühlen Sie sich nicht manchmal in merkwürdiger Gesellschaft?

 

Ali: Man sollte sich Urteils- und Unterscheidungsfähigkeit bewahren. Hamas und Hisbollah sind etwas anderes als al-Qaida. Hamas und Hisbollah sind organisch aus ihren Gesellschaften gewachsen. Ich würde mir wünschen, dass sie keine religiösen Gruppen wären. Aber meine Wünsche sind irrelevant.

 

Finden Sie, dass irgend etwas durch sie besser wird?

 

Ali: Besatzung produziert Widerstand. Je hässlicher die Besatzung, desto hässlicher der Widerstand. Wo gibt es hübschen Widerstand? Und vergessen wir nicht: Einen Aufstieg der Religion gibt es nicht nur in der islamischen Welt, es gibt ihn überall in der Welt. Nehmen wir nur das politische Christentum in den USA.

 

Was machte die Religion so bedeutend in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren?

 

Ali: Der Triumph des Kapitalismus in den frühen 90er Jahren hat alle anderen Alternativen weggefegt. In Europa ist die Sozialdemokratie tot. Die so genannten Mitte-Links- und Mitte-Rechtsparteien sind ununterscheidbar. Der demokratische Prozess ist eine Farce. Das lässt die Menschen verzweifeln. Sie suchen dann andere Antworten. Das ist ein universales Phänomen, nicht nur ein islamisches. In Bayern haben unübersehbare Gläubigenmassen dem Papst zugejubelt. Wo hat es so etwas denn früher in Westeuropa gegeben?

 

Der Erfolg des Islamismus ist also ein Resultat der Schwäche der Linken?

 

Ali: Es gibt nichts, was den Platz der untergegangenen Linken einzunehmen bislang imstande gewesen wäre – deswegen ist eben so wichtig, was in Lateinamerika vor sich geht.

 

Und in Europa? Wie müsste hier denn die linke Kraft aussehen, die Sie sich wünschen?

 

Ali: Nehmen wir die Programme der Sozialdemokratien in Europa in den 50er, 60er, 70er Jahren. Klar, die waren nicht immer radikal genug, auch nicht immer modern genug – alles in allem waren die jedoch ganz vernünftig. Aber dann haben sie das alles weggeworfen, sie haben total kapituliert.

 

Sie waren ein großer Star der 68er-Linken. Viele ihrer damaligen Freunde sind heute moderate Linksliberale, manche sogar Neokonservative. Warum haben die einen so anderen Weg genommen als Sie?

 

Ali: Ich habe überall Freunde und wundere mich, wenn ich ihnen auf der Straße begegne – die sind heute Banker, Broker, Minister und gucken ganz peinlich berührt, wenn wir uns treffen.  Wann immer sich eine große Welle des Radikalismus bricht und die Konterrevolution gewinnt, gibt es eine große Zahl von Leuten, die die Segeln streichen und die Seiten wechseln. Das war nach der französischen Revolution so, das war nach 1848 so – das ist überhaupt nichts Überraschendes.

 

Aber haben diese Ex-Weggefährten von Ihnen wirklich ihre Ideen verraten? Sie setzen sich für Menschenrechte ein und gegen Genozide und sagen, wir sind dafür wenn demokratische Staaten mit Militärgewalt blutige Diktatoren stürzen. Was ist so blöd daran?

 

Ali: Ach, dieses Gerede! Heute sagen das nicht mehr viele – einfach, weil ihnen das kein ernst zu nehmender Mensch mehr abnimmt. Seit der Okkupation wurden so viel Iraker getötet wie von Saddams Diktatur ermordet wurden. Bravo, eine tolle Art, den Genozid zu stoppen! Diese Idee, dass der Westen das Gute in die Welt exportiert, ist nicht neu: für gewöhnlich nennt man sie Imperialismus.

 

Tariq Ali wurde 1943 in Lahore in Pakistan geboren, emigrierte aber schon als junger Mann nach England. Er studierte Philosophie in Oxford und wurde der charismatische Führer der britischen `68er. Nach einer Episode als Trotzkistenchef machte Ali Karriere als Romancier, Filmemacher und Essayist. Er ist Mitglied des Redaktionskollegiums des legendären „New Left Review“. Auf Deutsch erschien 2003 sein Buch „Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung“. Vergangene Woche war Ali zu Gast in Wien. Der Falter traf ihn, wie sich das für einen eleganten britischen Radikalenführer gehört, in der Residenz des Botschafters des britischen Königreiches.

 

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