Recht auf Übertreibung

Gusi und seine Jusos. Warum die Realisten die Idealisten brauchen – und umgekehrt. Und warum Konflikte nicht schwächen, sondern integrieren. Nachträgliche Überlegungen über das seltsame Wesen von Jugendprotesten. Ein Essay aus dem Falter, 31. Jänner 2007

 

 

Das Setting war nicht unpikant, als sich vergangene Woche das sozialdemokratische Establishment alter und neuerer Tage zur Verleihung des „Bruno-Kreisky-Preises“ zusammenfand. Alfred Gusenbauer, gegen den die eigenen Leute demonstrieren, sollte unter anderem ein Buch ehren, das einer früheren Protestbewegung ein Denkmal setzen wollte. „Die Phantasie und die Macht“, das 68er-Brevier von Falter-Autor Raimund Löw. Was für eine Ironie, für die der Zufall da gesorgt hat. Da war es natürlich aufgelegt, dem Kanzler mal zu sagen, dass es vielleicht etwas suboptimal war, wie er mit den jungen Demonstrierenden umgegangen ist.

 

Wahrscheinlich tut es Gusenbauer selbst schon am meisten leid, das Wort von den „Gewaltbereiten“ und dass er mit dem Wilhelm Molterer miese Scherze über die Jusos machte, bei laufender Kamera noch dazu (zu sehen unter: www.youtube.com/watch?v=M4A57xAP8Q8). Hätte er sich die wehleidigen Abkanzler-Worte gespart, er hätte sich manches erspart.

 

„Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr kritische Jugendliche“, sagte EU-Parlamentarier Hannes Swoboda, und jeder wusste, dass das ein für Swobodas Verhältnisse verwegener Bodycheck gegen den Parteivorsitzenden war, noch dazu, wo der in der ersten Reihe saß. Dementsprechend laut war der Zwischenapplaus bei der Passage. Und Preisträger Raimund Löw legte in seiner Dankesrede nach: „Eine aufmüpfige Jugend macht das Regieren natürlich nie leichter, das gilt für Parteivorsitzende und Bundeskanzler aller Generationen“. Da darf man nicht dünnhäutig sein, schließlich gäbe es „in einem gewissen Alter ein Recht zu übertreiben“, ein Recht, das gerade die „Aufgewecktesten ihrer Generation“ in Anspruch nehmen.

 

„Ich habe eh nichts dagegen und früher hätte ich wahrscheinlich auch demonstriert“, sagte Gusenbauer hinterher. Endlich, mag da so mancher gedacht haben: Geht doch. Und tut gar nicht weh.

 

Aber was heißt das alles genau? Ist die Kritik übertrieben, aber richtig? Ist sie falsch, aber erfrischend? Liegen die Jungen daneben, tun aber dennoch das goldrichtige, weil sie Wind in die Bude bringen? Alles Fragen, die interessanter sind als der fruchtlose Streit, ob es ein „Bruch“ von Wahlversprechen ist, wenn man in Koalitionsverhandlungen seine Positionen nicht durchsetzt. Fragen, die ziemlich tricky sind. Dazu kommt, dass ein gewisser Modus der Gutwilligkeit gegenüber dem jugendlichen Idealismus ziemlich schnell nach Herablassung klingt. So wie bei Bruno Kreisky, der in solchen Fällen zu sagen pflegte: „Der wird sich die Hörnd’ln schon noch abstoßen.“

 

Überhaupt, die Jugend. Die war doch früher auch jünger, hört man allerorten. Dabei ist es natürlich gerade die Erwartungshaltung, die in solchen Wendungen zum Ausdruck kommt, die das Rebellieren schwierig macht. Die Jugend solle doch, bitte schön, so idealistisch, provokant und rotzfrech sein, wie wir es waren, bevor wir realistisch und pragmatisch wurden – ist von den Alten zu hören. Da freilich liegt schon das Problem: Schwer rebelliert es sich gegen Alte, die gleichsam von einem erwarten, dass man gegen sie rebelliert. In einem solchen Fall wäre Revoltieren eine eigentümliche Art von Folgsamkeit. Vor der Folie von mindestens vierzig Jahren Rebellionsgeschichte braucht es zur aufmüpfigen Geste auch nur einen Griff in den gesellschaftlichen Zeichenfundus, in die Kiste, in der alles schon Dagewesene aufbewahrt wird. Das macht die Sache unerquicklich, zumal niemand mehr ernsthaft glauben kann, die Unbedingtheit der Jugend habe grundsätzlich eine subversive Kraft. Diese Illusion hatten als letzte die Hippies, bevor sich herausstellte, dass sie im konsumkapitalistischen System auch nichts anders als eine Marktlücke und eine Zielgruppe darstellten. Früher waren Jugendbewegungen Ausbruchsversuche aus dem Konformismus, doch heute will ohnehin niemand Mainstream sein. Für jeden Geschmack gibt es die dazugehörige „Subkultur“ samt entsprechendem Warenangebot. Da braucht man nicht mehr protestieren, man kann ja einkaufen gehen. Der Geist der Revolte wurde selbst zu einer Produktivkraft, die in die Spirale von Werbung, Stil, Pop und permanenter Moderevolution eingespeist ist. Klingt etwa so: „Revolution. You must taste the feeling.“

 

Was früher die Bürger erschreckte und folglich extrem hip, weil nämlich eine „gänzlich neue Pose“ war (FM4-ler Martin Blumenau), wäre heute der dritte Aufguss von Abgestandenem und entsprechend peinlich. Wegen all dem ist es so viel schwieriger, sich politisch zu artikulieren, ohne sich lächerlich zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu erstaunlich, dass in den Jusos doch noch so viel Jusoprovokationsgeist steckt, dass sie sich Bundeskanzler vorknöpften, die früher selbst provokante Jusos waren. Ein Gottesgeschenk für die uncoole Sozialdemokratie, sollte man meinen. Bloß, die macht mal wieder nichts daraus. Zeigt sich von ihrer schlechtesten Seite.

 

Wobei auch die freundliche Tour die Sache nicht immer besser macht. Zu den perfidesten rhetorischen Strategien gehört das Stereotyp, in der Jugend müsse man wild und rebellisch sein, bevor man später gesetzt und realistisch würde. Perfide ist das deshalb, weil es natürlich eine simple Strategie ist, der Rebellion ihre Berechtigung zuzubilligen, ohne sie in der Sache ernst zu nehmen. Und es wird unterstellt, der blöde Sturm und Drang der Adoleszenz sei die notwendige Vorbereitung auf die Größe des Alters, was schon deshalb Unfug ist, weil welthistorisch gesehen das Große eher öfter als seltener von jungen Leuten bewirkt wird. Karl Marx war 25 als er das erste Mal ins Exil musste und 30 bei Erscheinen des kommunistischen Manifests, Luther war 34 als er in Wittenberg seine Thesen anschlug, Goethe 25 als er den Werther schrieb und Schiller ebenso alt, als er mit den Räubern das deutsche Theater revolutionierte und Bill Gates gründete mit 20 Microsoft. Und umgekehrt gilt: Hordenweise gehen Sechzigjährige durchs Leben, die noch immer vom Ruhm ihrer Zwanziger zehren. Josef Cap, heute 50, hatte irgendwie sein politisches Leben mit 31 Jahren schon hinter sich gebracht.

 

Dass die realistische Lebensphase wirkmächtiger als die idealistische sei, widerspricht also schon jeder oberflächlichen Empirie.

 

Womit wir bei der eigentlichen Dichotomie wären, die bei politischen Konflikten zwischen Etablierten und (relativen) Außenseitern meist bemüht wird: Der zwischen Idealismus und Realismus. Mag Idealismus je nach Epoche anders dekliniert werden (1968: Weltrevolution! 2007: Freier Hochschulzugang!), so ist beim Realismus ewiger Standard: Mehr war nicht erreichbar! (wobei das, was gestern als realistisch galt, heute als unrealistisch gelten kann und vice versa). Dabei sind die Übertreibung und das Realistische auf eigentümliche Weise miteinander verbunden, nur dass das meist weder die Idealisten noch die Realisten begreifen. Für die Idealisten sind die Realisten Verräter, für die Realisten sind die Idealisten weltfremde Irre. Dabei ist es doch in aller Regel so, dass die erfolgreichsten politischen Kräfte diejenigen sind, die sich unrealistische Ziele setzen, an diesen scheitern, aber im Zuge dieses Scheiterns etwas Positives bewirken. „Erfolgreiches Scheitern“, nennt man das längst in der kritischen Theoriebildung.

 

Das galt für die frühe Sozialdemokratie, die den Sozialismus wollte, und den Sozialstaat bekam, ebenso wie für die 68er, die für die Weltrevolution kämpften und mehr Liberalität durchsetzten.

 

Die Realisten brauchen den Rückenwind, den die Radikalen entfachen, die Idealisten brauchen die Realisten, die sich um das langweilige Realisieren des Möglichen kümmern. Auch wenn das so nicht gemeint war, lagen die 68er mit ihrer berühmten Parole also ziemlich richtig: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche.“

 

Eine Paradoxie, gewiss. Aber nicht die einzige. Weil Protestieren eine Form des Einmischens ist, ist Dagegensein auch eine Form des Mittuns. Jugendbewegungen, Jusoaufstände und ähnliches sind deshalb die klassischen Mechanismen der Initiation und damit auch der Integration ins politische Leben. „Integration durch Konflikt“, hat das der Frankfurter Sozialwissenschaftler Helmut Dubiel in einem mittlerweile berühmten Essay genannt. Stabile Gesellschaften sind, nach Dubiels Lesart, solche, die sich auf einer mittleren Skala zwischen Konsens, der allen Konflikt ausschließt, und dem Dauerstreit, der durch soziale Auflösung markiert wäre, verorten lassen. Und was für ganze Gesellschaften gilt, gilt natürlich auch für politische Gemeinschaften: Friedhofsruhe schadet ebenso wie dauernde Spaltungen, der „gehegte Konflikt“ dagegen stärkt. Wer keine Forderungen an ein Gemeinwesen oder eine politische Kraft mehr stellt, der hat sich innerlich verabschiedet. Wer protestiert, will Anerkennung vom Adressaten des Protestes und, lernt, „dass er eine Stimme hat“, sagt Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin als „Protestforscher“ arbeitet. „Gleichzeitig lernt er, seine Meinung auch in der Öffentlichkeit zu äußern.“

 

Man begegnet in diesen Tagen vielen Leuten, die finden, dass die Große Koalition eigentlich ganz in Ordnung sei, die aber auch die Proteste gegen dieselbe irgendwie sympathisch finden. Ist das Politschizophrenie? Verwirrung? Meinungsschwäche? Vielleicht ist es nichts von all dem, sondern ein wacher Instinkt für die Aporien und Ambivalenzen von Idealismus und Realismus, für die Paradoxien „integrierender Konflikte“. Mögen die Protestierenden auch übertreiben: Hat man je welche gesehen, die nicht übertrieben haben? Und nebenbei gefragt: Hat man je Regierende gesehen, die ihr Tun nicht schöngeredet haben?

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