Auf ewig Ex-Terrorist

RAF & Co. Vor 30 Jahren füllten deutsche Terroristen mit der Entführung des Textilindustriellen Walter Palmers ihre Kriegskasse. Reinhard Pitsch war damals dabei. Irgendwie ist es heute noch. Eine Begegnung. Falter, 18. April 2007

 

 

Dreiundfünfzig wird Reinhard Pitsch demnächst, aber noch immer ist es ein Tag im Frühjahr vor 30 Jahren, unter dessen Bann sein Leben steht. Exakt war es der 8. Mai 1977, der erste Todestag von Ulrike Meinhof. Da stand Pitsch mit seinen Genossen von der „Arbeitsgemeinschaft Politischer Gefangener“ vor der Uni Wien und verteilte Flugblätter. Faktisch war die APG eine Truppe von Sympathisanten der „Roten Armee Fraktion“ (RAF).

 

Da kamen zwei ältere Studentinnen offenkundig deutscher Herkunft auf Pitsch zu, und fragen ihn über die RAF aus. „Ich war ziemlich zurückhaltend. Zwei Deutsche die sich in Österreich über die RAF erkundigen – das schien mir verdächtig. Irgendwann haben sie gesagt, sie seien selbst steckbrieflich gesucht“, erzählt Pitsch. Beim nächsten Treffen im Café Haag – heute das Café Schottenstift – platzierte Pitsch heimlich eine Mitstreiterin in einer Nische, die verglich die Fotos mit den realen Gesichtern der Kontaktfrauen. „Dann war klar, das sind die Inge Viett und die Juliane Plambeck.“ Zwei der meistgesuchten deutschen Stadtguerilleros, Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“, die erst kurz zuvor aus einem Berliner Gefängnis geflohen waren.

 

Die Rechnung für den Kleinen Braunen im Café Haag wird für Pitsch das Eintrittsticket in eine kurze, aber nachhaltige Terroristenkarriere. Noch heute geht er durch Wien als „der Pitsch“, „der Ex-Terrorist“. Die sechs Monate zwischen Mai und November 1977 wird er nicht mehr los. Mit Pitsch über sein Leben zu reden, heißt, über diese sechs Monate zu reden – und über das bisserl Rest vorher und nachher. Über eine Biographie, bei der der viel größere Teil um eine Episode kreist. Um Pitsch, den Palmers-Entführer.

 

Doch der Reihe nach: Der Philosophiestudent Pitsch hat an diesem Frühjahrstag 1977 schon ein paar bewegte Jahre in der Wiener Apo-Szene hinter sich, einige Spaltungen im hiesigen trotzkistischen Sektenwesen inklusive. Und Pitsch galt, selbst in diesem an Überspanntheiten nicht armen Milieu, als schwieriger Typ. Vom Trotzkismus hatte er sich 1976 verabschiedet und eher zufällig einen Draht zum Stuttgarter Anwaltbüro Klaus Croissants gefunden. Wie sich herausstellte, waren Croissant und seine Anwaltreferendare so etwas wie eine Zelle der RAF. Einige von Croissants Mitarbeitern werden später die Akten gegen die Maschinenpistolen vertauschen. Kurios: Dadurch, dass Pitsch von den Frauen von der „Bewegung 2. Juni“ als Kontaktmann gewonnen wird, wird der Wiener Nachwuchsphilosoph mit einemmal auch zum Kurier zwischen der eher anarchorevolutionären Terrorgang aus Berlin und der RAF, die sich als knallharte kommunistische Befreiungsarmee imaginierte.

 

Viett und Plambeck reisen zurück nach Berlin und berichten ihrer Genossin Gabriele Rollnik, sie hätten da in Wien ein paar interessante Typen kennen gelernt. Das Trio, dem der Boden in Berlin des Jahres 1977 zu gefährlich geworden war, will in Wien, diesem ruhigen Hinterland, eine Geldbeschaffungsaktion machen. Pitsch macht sie mit seinen Kumpels Thomas Gratt und Othmar Keplinger bekannt, zwei jungen Theaterwissenschaftlern. Man beginnt die Planung „einer Aktion“.  

 

Bei einem Stadtheurigen geht man die Namen der Reichen durch. „In Wien gibt’s da ja nicht so viel“, erzählt Pitsch. „Dann hat man Wohnort, Fahrgewohnheiten ausgekundschaftet. Alles lief auf den Palmers hinaus. Man wusste, die Familie ist intakt – also die werden zahlen, um ihn wieder zurück zu bekommen.“

 

Pitsch macht mit – ein bisschen. „Ich habe Grenzübergänge ausgekundschaftet, Schießtrainings mitgemacht, einmal bin ich mit Gabriele Rollnik nach Italien Waffen einkaufen gefahren. Dort haben wir uns auch mit Gabriele Kröcher-Tiedemann getroffen.“ Kröcher-Tiedemann hatte 1973 einen Polizisten erschossen, war später aus dem Gefängnis freigepresst worden und hatte danach an dem Überfall auf die OPEC-Zentrale in Wien teilgenommen.

 

„Nach einiger Zeit haben sie gesagt, ich muss mich entscheiden, in die Bewegung 2. Juni einzutreten. Ich habe dann definitiv abgesagt“, erzählt Pitsch. Denn die „Bewegung 2. Juni“ habe er gar nicht so toll gefunden – dem Theoriefreak Pitsch sagte die RAF mehr zu als die eingerauchten Sponti-Terroristen der Berliner „Bewegung“. Kann sein, dass da aber auch ein Schuss Überlebensinstinkt dabei war. „Vielleicht war das Ganze der Versuch, die vorgezeichnete Bürgerlichkeit des Lebensweges zu durchkreuzen – ohne sie aber bewusst zu durchtrennen.“ Womöglich riss es ihn in zwei Richtungen. In die des militanten Existenzialisten, der sein Leben auf des Messers Schneide stellt, ein bisschen aber auch in die andere. Pitsch hielt die Dinge in der Schwebe. Sein Freund Gratt, eher der Bauch- als der Kopftyp, wählte den anderen Weg. Er ließ seine „bürgerliche Existenz hinter sich“, wie man das damals nannte.

 

Am 8. November wurde Walter Palmers, der betagte Textilunternehmer, vor seiner Villa in Währing entführt. Vordergründig läuft alles glatt – doch das Drumherum war von komischer Unprofessionalität. Die „2. Juni“-Leute wollten, dass die Entführung, die ja nur dazu diente, die Kriegskasse zu füllen, als „kriminelle Aktion“ erschien. Deshalb sollten nicht die deutschen Frauen, sondern „ein Österreicher“ mit der Familie telefonieren. Der Vorarlberger Gratt, in der Wiener Szene bekannt, sprach in seinem unverwechselbaren Idiom prompt auf ein Polizeitonband. Die Wiener Linken gingen im Café Dobner zum Münztelefonapparat, wählten die Nummer, unter der man sich die Stimme vorspielen lassen konnte, und schüttelten Reihum den Kopf über die Terrordilettanten. Palmers saß noch in seinem Verschlag in der Wehrgasse, da wussten fast alle, wer da dahinter steckt – alle, außer der Polizei.

 

Die Lösegeldübergabe lief noch reibungslos, doch die Absetzbewegung aus Wien geriet zu einem einzigen Fiasko. Man fuhr via die Schweiz Richtung Italien und mangels unverdächtiger Helfer saßen Gratt und Keplinger selbst am Volant. Man hatte zwar Millionen dabei, aber kein Kleingeld für die Münzzapfsäulen der Autobahntankstellen. Unterwegs riss auch noch der Auspuff ab. Die Flüchtigen waren etwa so unauffällig wie eine Mondrakete. Für Gratt und Keplinger war an der schweizerisch-italienischen Grenze Endstation. Die deutschen Terrorladies hatten sich da schon mit dem Lösegeld im Pendlerzug über die Grenze begeben.

 

In Wien hielt Pitsch die Stellung, beispielsweise den Kontakt mit den Flüchtigen und den zur RAF-Zelle nach Stuttgart. „Auch so eine Blödheit: Die sind mit den Millionen davon und hatten vergessen, mir etwas dazulassen.“ Pitsch saß mit 300 Schilling in Wien und musste sich von alten Trotzkistenkumpels „drei-, viertausend Schilling“ leihen. Ein paar Tage später saß auch er in Polizeihaft.

 

Dort gab’s Prügel, Tögel, Tritte in die Eier – „als ich in die U-Haft überstellt wurde, erschien mir das Justizgefängnis als sicherer Ort“. Im Prozess präsentierte sich Pitsch als Theoretiker im Nadelstreif, Gratt, mit seinem Wuschelkopf und Wollpullover noch halb ein Bubi, verabschiedete sich mit gereckter Faust und dem Ruf „Der Kampf geht weiter“ in die Strafhaft. Später fusionierte die RAF mit der „Bewegung 2. Juni“, übernahm deren „Personalstand“ – Gratt inklusive. Und das Vermögen: Die dritte RAF-Generation lebte von den 31 Millionen aus der Palmerskasse noch bis in die 90er Jahre.

 

„Immer, wenn irgendein RAF-Mensch festgenommen wurde, kam Palmers und stellte Haftungsansprüche. Ich hafte jetzt noch mit zirka 40 anderen in Europa für 31 Millionen Schilling“, erzählt Pitsch. Einen Pfändungsbeschluss haben Palmers und seine Erben aber nie erwirken lassen. Die Rückkehr in die Realität hat der Textilindustrielle seinen Entführern nicht verbaut.

 

Die lief auch so mühsam genug. Gratt erhielt 15 Jahre, Pitsch und Keplinger je 5,5 und 4 Jahre für „erpresserische Entführung“. Bald gab es Spannungen. Pitsch habe „gesungen“, raunte es durch die Szene. Was so nicht stimmte – er hat niemanden ans Messer geliefert, nichts erzählt, was die Ermittler nicht schon wussten. Irgendwann stellte ein Femegericht der RAF fest, Gratt habe zuviel geplaudert – und schloss ihn aus der RAF aus. Das, sagt Pitsch, „hat ihn gebrochen“. Als er 1990 aus dem Gefängnis kam, hatte Gratt schnell einen guten Job, war erstaunlich erfolgreich. Pitsch: „Aber er hat absolut zugemacht“. Vergangenes Jahr hat er sich umgebracht. „Die Todesart“, schüttelt es Pitsch. Ein Messer hat Gratt sich in Herz gerammt. Pitsch: „Ein literarischer Tod“.

 

Gratt ist vor die Hunde gegangen. Und Pitsch? „Nein“, lacht er, „sonst säße ich ja nicht hier.“ Aber rund lief nichts in seinem Leben, nachdem er 1981 aus der Haft kam. Er hat zwar in Graz-Kahlau sein Philosophiestudium weiter betrieben – der Professor Michael Benedikt reiste regelmäßig zu seinem Studenten, um ihm im Knast Kant-Privatissima zu geben –, das Doktorat holte er nach der Freilassung nach. Pitsch ging als Deutsch-Lektor nach Frankreich, hatte ein paar Stipendien, durchforstete diverse Philosophennachlässe, schreibt Artikel. Heute lebt er, „wovon man halt so lebt, von schmalen Honoraren“. Ein bisschen stand er sich immer selbst im Weg, aber das war früher nicht anders.

 

Heute ringt er vor allem darum, seiner Biographie Kohärenz zu geben. Nicht leicht, mit so einem Klotz am Bein. Er mag die „militante Weinerlichkeit“ von RAF-Leuten nicht, die sich über schreckliche Haftbedingungen beklagen („Zuerst ruft man den bewaffneten Kampf aus, und dann beschwert man sich, wenn man von Justizbeamten angerempelt wird“), aber auch ein Mea-Culpa will ihm nicht über die Lippen. „Die Überlegung der RAF, etwa die US-Militärpräsenz in Deutschland als kriegsführende Partei in Vietnam anzugreifen, war legitim“, beharrt er. „Das heißt natürlich noch nicht, dass es sinnvoll war.“ Irgendwie klingt er da, als argumentiere er noch heute für den bewaffneten Kampf, aber in Wirklichkeit argumentiert er nicht für etwas, sondern gegen etwas: dagegen, als einer dazustehen, der einem Phantasma aufgesessen ist und damit sein Leben ruinierte.

 

„Um es über einen Umweg zu sagen“, formuliert er dann: „Nehmen wir die frühen Christen – die waren überzeugt, Jesus ist der Messias und das Ende der Zeit ist nah. Später verschob sich der Zeithorizont und diese Naherwartung erschien nur mehr lächerlich. Das gab es in den sozialrevolutionären Bewegungen auch immer – 1848, 1919, als die Kommunisten in ganz Europa stark wurden. Und 1968 war die Stimmung ähnlich. Hinterher kann man leicht sagen: Man hätte das wissen können, dass das Blödsinn ist.“

 

Die Jahre einfach abschütteln? Nicht mit Pitsch. Ein bisschen ist es auch ein Treppenwitz der Geschichte: Der Mann, der nie wirklich ein Terrorist war, wird ewig ein Ex-Terrorist bleiben.

 

Im Rahmen der Ausstellung „Die Toten“ in der Kunsthalle spricht Peter Huemer am 23. April mit Reinhard Pitsch. 19 Uhr. Kunsthalle Wien, Museumsquartier.

2 Gedanken zu „Auf ewig Ex-Terrorist“

  1. In der Beilage zur „Die Presse“ vom 15. September 2007 findet sich ein Essay über die Palmers-Entführung von Peter Zavkravsky, Zeitzeuge und „Beinah-Aktivist“.
    http://diepresse.at/home/spectrum/zeichenderzeit/
    330099/index.do?_vl_backlink=/home/spectrum/index.do
    Ein Interview von Thomas Glatt, wenige Jahre vor seinem Tode ist auch dort zu finden – leider nur in der „Papier“-Ausgabe. In meinem Blog habe ich sein Resumee über die heutige Zeit abgeschrieben.
    http://1668cc.wordpress.com/2007/09/15/
    die-krise-der-revolution-i-thomas-glatt/

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