Die schlechten Guten

In seinem Buch „Die ersten Israelis“ demontiert Tom Segev den Mythos von selbstlosen Pionieren und idealistischen Staatsgründern. taz, 5. Juli 2008
 

Staaten entstehen nicht so einfach. Um einen Staat buchstäblich aus dem Nichts „aus dem Boden zu stampfen“ braucht es eine Idee, die die Leidenschaften beflügelt. Eine irre Idee, wenn man so will, eine auf nichts begründete Hoffnung. Wenn das dann auch noch gelingt, dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die ideologiestarke Bewegung, die das ermöglicht hat, das neue Gebilde mit einem Gründungsmythos belegt.
 
Die Entstehung des Staates Israel war ein solcher starker Moment. Und wie umstritten die historische Bilanz des jüdischen Staates auch immer sein mag, eines ist doch weitgehend Konsens, in Israel und außerhalb: die Gründung des Staates Israel war ein heroischer Akt selbstloser Pioniere, die die Wüste urbar gemacht haben, unter allen Entbehrungen mit viel Idealismus den Juden einen Staat geschaffen haben, und die, kaum war die Unabhängigkeit ausgerufen, sich in einem Überlebenskampf gegen eine übermächtige arabische Koalition verwickelt sahen. Das ist so in etwa die Urszene, schreibt Tom Segev in seinem Buch „Die ersten Israelis“. So habe man es in der Schule gelernt: „Wir waren die Guten, die Araber waren die Schlechten.“
 
Als Segevs Buch 1986 in Israel erschien, löste es heftige Kontroversen aus, eine Art Historikerstreit, der mit dem Auftreten einer ganzen Kohorte jüngerer Geschichtsforscher – bald „New Historians“ genannt – an Heftigkeit noch gewann. Es war wie immer und überall: man legte die Finger auf die Lebenslügen der Väter und Großväter. Jetzt ist Segevs Buch mit zwanzig Jahren Verspätung auf deutsch erschienen. Brisant und verstörend ist es immer noch.
 
Segev, der bis dahin unbekannte Akten sichten und auch die privaten Aufzeichnungen des Staatsgründers David Ben-Gurion einsehen konnte, zeichnet ein nüchternes Bild von den ersten Israelis – man könnte auch sagen, ein ernüchterndes. Beim „Unabhängigkeitskrieg“ ging es ziemlich schnell darum, sich mehr Land zusammen zu verteidigen. „Jetzt geht es um Eroberung, nicht mehr um Selbstverteidigung.“ (Ben-Gurion). Der Krieg war nicht erwünscht, als er aber ausgebrochen war, wollte man all seine Vorteile nutzen. Dass die arabischen Palästinenser flohen, wurde gerne gesehen, wer nicht von selbst ging, bei dem wurde nachgeholfen. Es kam zu Massakern und in der Folge zu Hals-über-Kopf-Fluchtbewegungen, Abläufe, die man heute mit dem Begriff „ethnische Säuberung“ bezeichnet. Die Regierung veranlasste die Morde und Plünderungen nicht, tatsächlich zeigte man sich erschüttert von den Gräueltaten, aber man arrangierte sich gerne mit ihren Resultaten: „Land mit Arabern darauf und Land ohne Araber darauf sind zwei sehr verschiedene Arten von Land“, sagte Ben-Gurion auf unnachahmliche Weise. Man wandte viel Grips auf, um die Flüchtlinge an einer Rückkehr zu hindern und verteilte derweil ihren Besitz. Besser: Man wollte ihn verteilen. Tatsächlich stahlen viele, was sie konnten: Häuser, Teppiche, Firmen. Dem Staat blieb zum Verteilen eher weniger.
 
Gleichzeitig strömten hunderttausende Juden aus aller Welt nach Israel: Opfer des Holocaust, junge osteuropäische Juden, Juden aus Marokko, Algerien, dem Jemen. Teils trieb sie die Not nach Israel, teils wurden sie mit falschen Versprechungen angelockt, teils verschlechterte sich die Stellung der Juden in arabischen Staaten wegen des beginnenden arabisch-israelischen Konflikts. Dem Ansturm war der junge Staat nicht gewachsen. Unter unerträglichen Bedingungen vegetierten die Ankömmlinge in Lagern.
 
Aber Segev, Historiker und Journalist von Beruf, beschreibt nicht nur diese verdrängte Geschichte, er schildert auch auf fesselnde Weise die politische Kultur des jungen Staates und das Ringen um seine Identität. Der „sozialistische“ Charakter mit seinem Kibbuz-Mythos, die Dominanz der gemäßigt linken Mapai-Partei, aber auch die staatsdirigistische Günstlingswirtschaft. Fast grotesk nimmt sich aus heutiger Sicht die bürokratische Liebe zu Rationierung und Warenzuteilung aus (mit dem einzigen Ergebnis, der Ausbreitung von Schwarzmarkt und Schattenwirtschaft). Packend auch die Passagen, in denen Segev die ersten Angriffe der Religiösen auf den säkularen Charakter des Staates beschreibt.
 
Wie immer, wenn historische Mythen demontiert werden, beschreibt der Autor die verdrängte Geschichte: das, was weg geschwiegen wird. Notgedrungen ergibt sich daraus ein düsteres Bild. Ein zu düsteres Bild? Man fragt sich ein wenig nach der Lektüre: War denn gar nichts gut? Natürlich gab es Pioniergeist und Heldentum, aber der „Alltag der ersten Israelis war weniger stark davon geprägt, als die erträumt hatten“, resümiert Segev – und auch weniger, als eine verklärende Heldengeschichte glauben machen will.
 
Vor allem sind viele Fragen, die in den Jahren 1948 bis 1953 im Raum standen, bis heute nicht gelöst – sie haben eher an Brisanz gewonnen. Wie kann Israel demokratisch und ein jüdischer Staat bleiben, mit einer jetzt wieder wachsenden arabischen Minderheit im Land? Wie schafft man Frieden, wenn man nur auf das Diktat des Stärkeren vertraut? Und wie ist das Verhältnis von säkularen Institutionen und Religion im „jüdischen Staat“? Mit der Okkupation weiterer arabischer Gebiete nach dem Sechstage-Krieg 1967 hat sich Israel ja ein bis heute brennendes Problem eingehandelt – aber das ist schon nicht mehr die Geschichte der „ersten Israelis“.  
 
Israel, schreibt Segev in seinem aktuellen Vorwort, ist ein Experiment, „das noch nicht gelungen und auch noch nicht gescheitert ist“.
 
Tom Segev: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates. Siedler-Verlag, München, 2008, 414 Seiten, 25,70.- €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.