Schirrmachers Loblied auf den Nerd

Für das Wahlblog der Böll-Stiftung

 

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher kann einem gelegentlich auf die Nerven gehen – mit seinen „Wichtige-Männer“-Netzwerken etwa, mit seinem Methusalem-Komplott. Aber sehr oft weiß man dann doch, was man an ihm hat: Einen aufgeweckten Zeitgenossen, der neugierig ist auf die Welt, einen Mann mit einer Nase, wie man so schön sagt – einen, der Witterung aufnimmt. Jetzt hat er einen ebenso klugen wie wohltuenden Text geschrieben über den „Aufstieg der Nerds“.

Wohltuend: Weil er so gar nichts von den Jeremiaden hat, von den altväterlichen Klagerufen, dass das Internet die Kultur, den Journalismus – was auch immer – zerstört und auch nichts von den bizarren „Spiegel“-Titelgeschichten, in denen die digitalen Datenbahnen nur als mafiöses Netz vorkommen, in denen sich nur Betrüger und kinderpornogeile Perverse treiben und böse Geschäftemacher die persönlichen Daten naiver Teenager abzocken. Klug: Weil Schirrmacher die „Revolution der Piraten“ als Symptom nimmt und ihm beim Nachdenken über diese Symptomatik einiges auffällt über unsere Wirklichkeit. These 1: Unsere Welt wird von „Nerds“ geprägt, jenen Technikbastlern, die wir als coole Teenager gerne belächelt haben, aber denen wir Datenautobahnen, Computerprogramme und Google verdanken. Unsere virtuelle Umwelt, diese neue Ökologie, in der wir uns schon so selbstverständlich bewegen, ist eine von Nerds produzierte, aber diese Umwelt ist natürlich nie neutral – sie prägt auch uns, die Nicht-Nerds. „Ihrem Wesen nach sind Nerds individualistisch. Aber sie sind Individualisten, die dank der digitalen Technologie die größte Vernetzungsstufe der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben.“ These 2: Die „Piraten“, die natürlich mehr sind als die, die sich unter dem Emblem der Piratenpartei versammeln, sind, so Schirrmacher, einerseits kommerzfeindlich (Kopierschutz), halbmarxistisch (Vergesellschaftung der Inhalte), und gleichzeitig individualistisch bis hart an die Grenze zum Neoliberalismus. Man muss sich nur umsehen, um zu erkennen, wie sehr die technologische Umwelt, die von Nerds geschaffen wurde, auch den Habitus zeitgenössischer Kultur-, Medien-, Wissens- etc. -Produzenten und -Konsumenten längst prägt. Deswegen sind die Themen der Piratenpartei keine Obsessionen von ein paar obskuren, bleichgesichtigen Computerfreaks. Sie handeln auch nicht bloß von Datenschutz oder Urheberrecht. Sie handeln davon, wie wir Arbeit organisieren, wie auf Märkten heute produziert wird.

 

Jeder Autor weiß, dass er heute ein viel dialogischeres Verhältnis zu seinen Lesern hat. Jeder Kommentator weiß, dass er den Spin seiner Kommentare nur beschränkt kontrollieren kann. Er ist bei der Verbreitung seiner Arbeit auf „Prosumenten“ angewiesen, die sie kommentieren, die sie für ihresgleichen als „interessant“ markieren oder sogar schneeballartig weiter senden. Jeder hat ein, und sei es auch unbewusstes, „Wissen“, über die Ökologie und Ökonomie der Aufmerksamkeit. Und er weiß auch, dass nicht-wahrgenommen-werden das gleiche ist wie nicht zu existieren. Kaum ein Kreativer hat noch das nostalgische Bild vom solitären Künstler im Kopf – jeder weiß um die frei flottierende Aufmerksamkeit des Publikums, die man nicht aus der Schreibstube anstachelt. Jeder weiß auch um die Macht des Kooperativen in einer multimedialen Welt. Videomacher bedienen sich bei Musikprogrammierern, Musiker brauchen Videomacher für ihre Soundframes, der Autor braucht den Webdesigner, der Webdesigner den „Content“ des Autors. Neben der Kauf-Ökonomie gibt es längst die Gefälligkeits-, Hilfs-, und Gratis-Ökonomie, die ohnehin alle wie selbstverständlich nützen. Politische Kampagnenplaner wissen, wie volatil Erfolg ist: die beste virale Netzkampagne nützt nichts, wenn die Kandidaten fad sind, kein „Narrativ“ vorhanden ist, die Slogans schlecht und die Programme dürr sind. Aber die besten Programme nützen auch nichts, ja, selbst das Wissen über die technologischen Möglichkeiten nützt nichts, ohne das „Gespür“, wie sie angemessen eingesetzt werden. Ein Hit entsteht nur, wenn im Netz des Kooperativen alles stimmt. Und das Wenigste, was diese Wirklichkeit am Laufen hält, kann man kaufen – am allerwenigsten das „Gespür“. Sehr viel entsteht es durch Zusammenarbeit auf Bastler-, Begeisterungs- und Non-Profit-Basis.

 

Und natürlich benötigt man, auch wenn man den Krämergeist verachtet, daneben auch so etwas wie ein „Geschäftsmodell“, wenn man nicht hungern will. So funktioniert unsere Welt längst. Oft so selbstverständlich, dass man darüber nicht einmal mehr nachdenkt.

 

Eine solche Welt braucht vielleicht keine „Piratenpartei“ als politische Kraft – vielleicht sogar im Gegenteil: Jede politische Kraft, die nicht hoffnungslos von Gestern sein will, braucht wohl mehr als eine Prise „Piratengeist“. Der Nerd ist eine Produktivkraft. Ich glaube, das ist es in etwa, was uns Schirrmacher sagen wollte. Und er hat vollkommen recht damit.

2 Gedanken zu „Schirrmachers Loblied auf den Nerd“

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