Was die Wähler nicht entscheiden dürfen…

Für das Wahlblog der Heinrich-Böll-Stiftung:

Ich kann Helmut Wiesenthal jüngst hier geäußertes Plädoyer für einen entspannten, mutigen Umgang mit allen möglichen Koalitionsoptionen in einem Fünf-Parteien-System manches abgewinnen. Aber ich habe den Eindruck, dass sein Beitrag die Sache ein wenig zu niedrig hängt. Die „Failed-Democracy“-Diagnose des von ihm zitierten Financial-Times-Autors zielt doch auf eine sehr grundsätzliche Problematik ab. Hier heißt es ganz zum Einstieg: „Es gibt unterschiedliche Definitionen von Demokratie und sie existiert in verschiedenen Ausformungen in der Welt. Aber der Kern der Demokratie besteht darin, dass die Wähler entscheiden sollen, wer sie regiert. In diesem Sinn besteht Deutschland den Demokratie-Test nicht.“

 

Wiesenthal schreibt richtig, dass die Wahlen in Thüringen und dem Saarland auf eine, sagen wir es vorsichtig, Mehrheit der Mitte-Links-Parteien in Deutschland hindeuten (sofern wir die „Grünen“ noch als Mitte-Links-Partei einstufen, was sicherlich die Mehrheit ihrer Funktionäre und Wähler tun, aber wahrscheinlich nicht mehr alle). Nun gab es, was manchen vielleicht gar nicht so bewusst ist, in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik bis 1998 nie eine Mitte-Links-Mehrheit (die Brandt- und Schmidt-Regierung von 1969 bis 1983 war auf die FDP angewiesen), seit 1998 gibt es aber ununterbrochen eine Mitte-Links-Mehrheit im Bundestag. Dennoch ist die Regierung seit 2005 christdemokratisch geführt. Nun kann man natürlich die Auffassung vertreten, das Problem liege einzig darin, dass es innerhalb des Mitte-Links-Spektrum eine Partei gibt, mit der bisher im Westen und wohl auch in nächster Zukunft im Bund keine Koalitionen eingegangen werden. Dies führt dazu, dass die Richtungsentscheidung der Wähler sich nicht mehr in Regierungsbildung übersetzt. Daran ist sicher sehr viel wahr, aber es ist, scheint mir, nicht die gesamte Wahrheit.

Das Verhältniswahlrecht führt unter den Bedingungen von Ausdifferenzierung in plurale Lebenskulturen und bei einer gewissen Entspannung weltanschaulicher Grundsatzdifferenzen zu einem Viel-Parteien-Parlament, in dem letztendlich sehr viele miteinander können. Es ist in seine Logik eingeschrieben, dass kleine Parteien, die in alle Richtungen koalitionsfähig sind, deutlich mehr Macht haben können, als es ihrem eigentlichen Gewicht entspricht. Sie können sehr viel gewinnen, wenn sie sich, wie es dann immer so schön heißt, alle Optionen offen halten. Dies führt dann beinahe notwendigerweise dazu, dass die Bürger zwar ein Parlament wählen, die Regierungsbildung aber relativ unabhängig vom Wahlausgang ist. Hinzu kommt: Die Bildung von Drei-Parteien-Koalitionen ist logischerweise etwas schwierig. Dies führt dazu, dass die relativ größeren Parteien einen gewissen Anreiz haben, untereinander zu koalieren. Im übrigen kann es natürlich auch durchaus in Ordnung sein, wenn die Partei X sagt, dass sie mit der Partei Y aus politischen oder sogar ethischen Gründen nie und nimmer koalieren wird. Aus der Möglichkeit zur Koalition ergibt sich ja keine Pflicht zur allumfassenden Koalitionsbereitschaft.

Es gibt also einen leichten Zug in Richtung großer Koalition. Und: Sowohl in Großen- wie auch in Mehr-Parteien-Koalitionen gibt es eine Dynamik in Richtung kleinster gemeinsamer Nenner. Wie man es also dreht und wendet, Richtungsentscheidungen, gar Richtungswechsel-Entscheidungen der Wähler lassen sich nur mehr im Glücksfall in Regierungskonstruktionen abbilden. Das ist ein Grundsatzproblem, für das möglicherweise eine „Failed-Democracy“-Diagnose etwas übertrieben ist. Aber es ist ein Grundsatzproblem.

Ein Gedanke zu „Was die Wähler nicht entscheiden dürfen…“

  1. Gut argumentierte Analyse. Aber dieser Gedanke ist m.E. unvollständig und müßte weitergeführt werden. Es geht hier nämlich nicht um ein Grundsatzproblem der Demokratie, sondern um eines des Verhältniswahlrechtes.
    Ein Mehrheitswahlrecht würde dieses Problem lösen, da dann Richtungsentscheidungen des Wählers („rechts vs. links“) prägnant abgebildet werden.
    Das bringt natürlich andere, mindestens ebenso große, Probleme mit sich: z.B. Repräsentanz der Minderheit oder Relevanz von Kleinparteien. Länder mit Mehrheitswahlrecht haben m.W. 2-3 große Parteien und sonst nicht viel.

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