Papiergeld in der Schubkarre

Ist unser Geld bald nichts mehr wert? Vom Nutzen und Nachteil der Inflation für das Wirtschaftsleben. Der Freitag, 20. Mai 2010

 

 

Die Zeiten der Hyperinflation in den Zwanziger Jahren sind lange vorbei, aber noch immer sind sie in Deutschland ein nationales Trauma. Fast jeder hat einen Uropa, der damals ruiniert wurde. Und man erzählt sich die seltsamsten Geschichten. Etwa die, dass es üblich war, sich in der Kneipe zwei Biere gleichzeitig zu bestellen – weil, während man das eine austrank, schon der Preis für das nächste angestiegen wäre. Oder die Geschichte von der alten Frau, die ihr Geld in einer Schubkarre heimfuhr, diese einen Augenblick unbeaufsichtigt ließ – worauf ihr Diebe die schöne Schubkarre gestohlen, das wertlose Papiergeld aber zurückgelassen hatten. Für 1000 Mark bekam man im Sommer 1923 gerade einmal vier Schrippen.

 

Inflation gilt in Deutschland als Schreckgespenst: Schließlich haben zwei Generationen einen Großteil ihrer Ersparnisse verloren. Uropa während der Hyperinflation, Oma 25 Jahre später bei der Währungsreform 1948.

 

Jetzt geht es wieder um, das Gespenst der Inflation. Weil die Zentralbanken nach dem Beinahe-Kollaps des Bankensystems im Jahr 2008 die Finanzmärkte mit „Liquidität“ geflutet haben, werde es bald zu Geldentwertung kommen, fürchten viele. Und mit ihrer Entscheidung, schrottreife griechische und fragwürdige spanische und portugiesische Staatspapiere gegen gutes Geld einzutauschen, habe auch die Europäische Zentralbank (EZB) einen Rubikon überschritten.

 

Inflationsgefahr macht vielen Menschen Sorgen, aber den Deutschen macht sie seit jeher besonders viele Sorgen. Das Trauma der Hyperinflation sitzt tief – aber das ist wohl nur ein Aspekt. Nach 1945, als auf dem Land der Schatten des Nazitums lag und Deutschland zudem geteilt war, wurde die „harte D-Mark“ so etwas wie ein Identitätsanker im Westen. Das gute Geld symbolisierte: Wir sind wieder wer. Die Umsicht und Sparsamkeit der sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt und sich etwas für später auf die Seite legt, wurde als ökonomische Tugend schlechthin gepriesen. Und wer spart, für den ist die Entwertung des Ersparten natürlich das Schlimmste. Es ist für ihn nicht nur eine wirtschaftliche Katastrophe, sondern auch eine Ungerechtigkeit: der Sparer kasteit sich, versagt sich die Realisierung von Wünschen, wenn ihm aber dann das Geld zwischen den Fingern zerrinnt, dann ist das eine Gemeinheit. Sie bestraft die Tugend und belohnt den Laster. Diese nationale Idee von der Tugendhaftigkeit des Sparers bestimmte noch die Debatten um die deutsche Wiedervereinigung. Wider alle ökonomische Vernunft wurden die Sparguthaben von DDR-Bürgern bis zu 6000 Mark 1:1 in D-Mark umgetauscht. Helmut Kohl, der das durchsetzte, mag sich wohl gedacht haben: Mögen die Sparer auch aus dem Kommunismus kommen, so sind sie doch deutsche Sparer.

 

Aber droht sie jetzt wirklich wieder, die Inflation? „Es gibt zwei Denkschulen“, formuliert Paul Krugman, der Wirtschaftsnobelpreisträger. Die eine verweise auf die schwache Nachfrage und die Arbeitslosigkeit – somit sei keine Inflation zu erwarten. Die andere, die monetaristische Schule, zeigt auf all das Geld, das die Zentralbanken in den Markt pumpen und die Regierungen ausgeben und sagt „Inflation, vielleicht sogar Hyperinflation, lauere um die Ecke“. Bisher ist ziemlich klar, welche der Schulen recht hat. Seit zwei Jahren fluten die Zentralbanken die Wirtschaft mit Liquidität – und kaum wo beträgt die Inflationsrate mehr als ein Prozent. Wenn die privaten Haushalte sparen, die Banken versuchen, Geld zu horten und auch die Staaten sparen, müssen die Unternehmen eher die Preise senken, wenn sie ihre Waren loswerden wollen. Es droht Preisverfall – Deflation -, nicht Preisauftrieb. Diese Deflation ist deutlich gefährlicher als Inflation. Und zwar aus zwei Gründen: Wenn die Preise der Waren fallen, nehmen die Bürger an, sie würden noch weiter fallen. Sie verschieben deshalb ihre Einkäufe an einen späteren Zeitpunkt, weil sie annehmen, sie würden die Stereoanlage, den Computer, das Auto dann günstiger bekommen. Die Nachfrage, die ohnehin schon stockt, fällt dann noch weiter in den Keller. Der zweite Grund ist noch bedrohlicher: Bei Deflation verfallen die Einnahmen der Firmen, aber ihre Kreditschulden bleiben nominal gleich – und das heißt, sie steigen real an. Bei Deflation erdrücken die Schulden oft auch Unternehmen, die eben noch gesund waren.

 

„Inflation gibt es nur bei überschießender Nachfrage und steigenden Löhnen“, sagt Heiner Flassbeck. Der Ökonom war Konjunkturforscher im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, dann Staatsekretär bei Oskar Lafontaine im Finanzministerium, jetzt arbeitet er als Chefvolkswirt der UNCTAD in Genf. „Es gibt keine Inflationsgefahr. Das ist Unsinn! Eine große Volksverdummungsaktion“, regt sich der Wirtschaftswissenschaftler auf. Wenn Inflation drohte, dann könnten wir uns glücklich schätzen – es wäre ein Zeichen, dass wir aus dem Schlimmsten raus sind.

 

Zudem ist die Frage, ob Inflation überhaupt so schlecht wäre. Die Diskussion wird nicht gerade dadurch vereinfacht, dass oft mehrere Aspekte vermischt werden, die man so salopp unter „Geldentwertung“ und „Weichwährung“ subsumiert. Inflation heißt, dass das Geld im Inneren einer Volkswirtschaft an Kaufkraft verliert – in Extremfall, dass die Bioschrippe um 30 Cent morgen 60 Cent kostet. Eine andere Form der Geldentwertung, die aber mit Inflation wenig zu tun hat, sind Veränderungen im Wechselkurs mit anderen Währungen. Ist der Euro „stark“ – also, wenn man viele Dollars für einen Euro bekommt -, dann sind Waren aus den USA billig. Dafür sind aber für die Amerikaner Waren aus Europa teuer. Für die europäische Exportwirtschaft ist also ein schwacher Euro eher nützlich. Inflationsgefahr geht von einem niedrigen Wechselkurs nur insofern aus, als der Kauf von Rohstoffen, die am Weltmarkt in Dollar notieren, dann teurer wird: allen voran das Erdöl. Das ist keine Kleinigkeit, aber auch nicht so tragisch.

 

Aber auch die „echte“ Inflation hat ihre Vorteile. Die Staaten haben in den vergangenen Jahren enorme Defizite angehäuft; auch viele Banken sind überschuldet; und in vielen Volkswirtschaften haben auch die privaten Haushalte einen sehr hohen Schuldenstand. Im Grunde müssen alle drei Akteure in den kommenden Jahren „konsolidieren“, das heißt, ihre Schulden zurückfahren. Das würgt die Wirtschaft ab und ist mit sozialen Härten verbunden. Privaten Haushalten stehen die Schulden bis zum Hals, und der Staat wird bei Sozialleistungen sparen, bei der Bildung, bei der Kultur. Schulden wegsparen ist eine harte Sache. Eine moderate Inflation ist in solchen Zeiten eine Verlockung.

 

Um das an einem simplen Gedankenexperiment zu erklären: Nehmen wir an, ein Staat hat ein BIP von 200 Milliarden Euro und einen Schuldenstand von 100 Milliarden Euro. Gibt es eine Inflation von fünf Prozent, dann steigt das BIP, auch ohne Wirtschaftswachstum, auf 210 Milliarden Euro – die Schulden bleiben aber bei 100 Milliarden Euro. Innerhalb von ein paar Jahren hätte dieser Staat seine Schulden von 50 Prozent des BIP auf 40 oder 30 Prozent „weginflationiert“. Diese Schuldenreduktion durch Inflation war in den vergangenen Jahrzehnten eine verpönte Idee. Auch in den USA hat die Phase hoher Inflationsraten von bis zu zehn Prozent in den sechziger und siebziger Jahren dazu geführt, dass man eine Kontrolle der Preissteigerungsraten auf ein, zwei Prozent als hohes wirtschaftspolitisches Ziel anerkannte. Deshalb wurde es in Fachkreisen auch als Sensation aufgenommen, als Oliver Blanchard, der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds vor ein paar Monaten ein Memorandum vorlegte, in dem er den Gedanken ausbreitete, die Notenbanken sollten ihr Inflationsziel von zwei auf vier Prozent verdoppeln.

 

Für die Eurozone im Speziellen hätte eine moderate Inflation von drei, vier Prozent noch einen speziellen Vorteil. Griechenland, Spanien und Portugal haben in den vergangenen Jahren gegenüber den starken EU-Staaten massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Sie werden ihre Wirtschaft nicht in Schwung bringen, wenn diese Ungleichgewichte nicht korrigiert werden. Eine der Möglichkeiten wäre, dass Deutschland seine Löhne um 10 Prozent erhöht in den kommenden Jahren – keine sehr realistische Variante. Also müssen diese Länder ihr Lohn- und Preisniveau reduzieren. Gibt es Inflation Null, müssen sie die Löhne massiv senken. Gibt es aber im Deutschland, Österreich, Holland eine Inflation von vier Prozent, würden in den krisengeschüttelten EU-Ländern schon drei Jahre ohne Lohnzuwächse ausreichen, um den Effekt zu erzielen, der einer Lohnsenkung von zehn Prozent entspricht.

 

Schädlich, jedenfalls, ist eine moderate Inflation nicht immer. Sie schadet jenen, die schon Vermögen besitzen und nützt jenen, die Schulden haben. Sie schadet eher den Alten, und nützt eher den Jungen. Sie ist, wiegt man Vor- und Nachteile ab, eher sozial „gerecht“ als viele Alternativen zur Inflation. Das größte Problem mit der Inflation ist aber ihre Unkontrollierbarkeit. Bis zu einem gewissen Maß nehmen die Menschen die Inflation kaum wahr. Gibt es Inflation von zwei Prozent, freuen sich die Bürger über Lohnerhöhungen von 1,5 Prozent – sie freuen sich über Zuwächse, die in Wirklichkeit Verluste sind. Ab einer gewissen Inflationsrate beginnen sie die Geldentwertung aber in ihre Überlegungen einzukalkulieren. Rechnen sie mit fünf Prozent Inflation, werden Gewerkschaften Lohnzuwächse von acht Prozent anpeilen – weil ihnen dann bewusst ist, dass die real höchstens drei Prozent ausmachen oder, wenn die Inflation noch anzieht, sogar weniger. Gewerkschaften werden bei den Lohnforderungen, aber auch Unternehmen bei ihrer Preisgestaltung und Banken bei ihren Zinssätzen einen „Sicherheitspolster“ einziehen – und dann beginnt die Inflation zu galoppieren. Dann kann niemand mehr genau kalkulieren. Dann werden Preise und Kosten schwer planbar. Und dann gerät die Wirtschaft außer Takt.

 

Und dann nützt Inflation (fast) niemandem und schadet (fast) jedem.

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