Mehr Demokratie wagen! Für wen? Von wem?

Dringende Leseempfehlung: Der Blog und das aktuelle Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

Blogs werden ja im Internet veröffentlicht, ein Beitrag ist schnell geschrieben und mit einem Klick in die Welt gesetzt. Oft haben sie natürlich auch etwas Flüchtiges. Das Medium Buch ist dagegen so ziemlich das Gegenteil. Bäume müssen gefällt werden, die Texte werden im optimalen Fall mit viel Bedacht geschrieben und redigiert, dann wird gedruckt, gebunden und dann bringen stinkende LKWs die Bücher zu den Kunden. Heute möchte ich aber auf etwas aufmerksam machen, was das Medium Blog und das Medium Buch auf das Schönste verbindet. Auf das Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2010.


 

Das Universitätsinstitut unter der Führung des ebenso klugen wie engagierten Professors Franz Walter betreibt nämlich seit einiger Zeit auch einen Weblog. Seminararbeiten und Forschungen von Nachwuchswissenschaftlern verstauen so nicht in den Regalen, sondern werden zu kurzen, pointierten Kommentaren und kleinen, aktuellen Studien verdichtet. Meine Empfehlung: so häufig wie möglich da reinschauen!

Und nun haben die Autoren eben ein Jahrbuch herausgebracht, das über weite Strecken aus den Blogbeiträgen, aus Beiträgen für Zeitungen oder aus eigens für das Jahrbuch verfertigten Stücken besteht. Das Buch platzt förmlich von klugen und luziden Analysen über deutsche und europäische Parteien, über die Probleme der Medien- und „Postdemokratie“, neue Partizipationsmodelle, Protestkulturen oder die Sprache des Populismus.

Oft erfährt man höchst erstaunliches, etwa in einem Beitrag Franz Walters, der an Hand von Studien zeigt, dass sich heute

„in keiner Parteianhängerschaft die Zahl derjenigen, die sich als ‚politisch uninteressiert‘ bezeichnen, so groß ist wie eben bei den Grünen. Mittlerweile nähert sich der Anteil politisch im Grunde desinteressierter Menschen im Lager der Grünen-Sympathisanten der Fünfzig-Prozent-Marke. … zu den politisch gefestigten Parteigängern eines ernsthaften ökologischen Entwurfs zählt die Hälfte ihres aktuell vermuteten Elektorats nicht.“

Wenn die Grünen in Umfragen hochgehen, dann ist da heute oft eine sehr oberflächliche Stilfrage:

„Gewissermaßen: Die SPD ist piefig, CDU wirkt gestrig, Linke sind prollig, FDP seit einem Jahr wieder peinlich.“

Johanna Klatt untersucht mögliche negative Seiten neuer, partizipativer Demokratiemodelle:

„Politische Partizipation war und ist sozial ungleich verteilt. Menschen mit hohem Bildungsgrad und großem Einkommen verfügen stets über stärkere individuelle Ressourcen zum Politikmachen als Einkommens- und Bildungsschwache. … Doch strukturelle Veränderungen darin, wie man sich heute politisch beteiligt, werfen die Frage auf, ob bestehende soziale Unterschiede in der politischen Partizipation derzeit nicht sogar zunehmen.“

Ihr Material liefert ihr der Hamburger Schulstreit, bei dem die Bildungsprivilegien der Bessergestellten verteidigt wurden. Hier

„stimmten gerade die Bewohner sozial höher gestellter Stadtviertel ab, während Angehörige strukturschwacher Areale den Urnen am Abstimmungstag fernblieben.“

„Zivilgesellschaftliche“ Partizipation wird allgemein euphorisch begrüßt, obwohl sichtbar ist, dass hier oft Privilegiertere leichter ihre Stimme erheben können als Unterprivilegierte. Unproblematisch ist das nicht. Man müsse, so Klatt, an die Forderung „Mehr Demokratie wagen“ wieder Fragen wie „Für wen?“ und „Von wem?“ anschließen.

Lesenwert sind viele Gesellschaftsanalysen, etwa die von Franz Walter über den Gefühlhaushalt der ominösen „gesellschaftlichen Mitte“ („Die Mitte träumt von einer neuen Stunde null“), oder etwa von Alexander Hensel über die Sprache des Populismus. Eines deren zentraler Themen ist ja der behauptete „Tabubruch“ gegen die „Politische Korrektheit“. Hensel benützt den Begriff des „Pseudotabubruchs“, der sich nicht auf real vorhandene Tabus beziehe,

„sondern auf zuvor lediglich imaginierte … Zunächst wird die eigene politische Position zum Tabu stilisiert. So kann die beschriebene kollektive Ablehnung von Tabus aktiviert werden. Dies ermöglicht, etwaige Kritik der eigenen Position zu diskreditieren, indem diese als bloße Verteidigung des vorgeblichen Tabus beschrieben wird. Als solche kann sie, ungeachtet ihres Inhalts, als Angriff auf Pluralismus und Meinungsfreiheit umgedeutet werden. Der Pseudotabubrecher selbst inszeniert sich demgegenüber als intellektuell redlicher Querdenker und mutiger Verteidiger dieser demokratischen Werte.“

Und noch ein Vorteil kommt hinzu: ein inszenierter Tabubruch zieht meist ein hohes Maß an Publizität nach sich, und der Populist kann sich gegen Kritik praktisch immunisieren. Hensels Fazit:

„Der Pseudotabubrecher schmückt sich mit Federn, die ihm nicht gebühren: Er ist weder subversiver Märtyrer, aufklärerischer Held noch Verteidiger demokratischer Werte, sondern verfolgt seine politischen Interessen mit Mitteln, die allgemein unredlich sind und den Spielregeln einer demokratischen Öffentlichkeit widersprechen.“

Das Jahrbuch selbst ist mit seinen stolzen 79.- Euro natürlich praktisch unbezahlbar und höchsten für Büchereien eine Option. Aber macht ja nichts. Man kann es ja entleihen – oder die Mehrzahl der Beiträge einfach mit Blog nachlesen.

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