Gibt es progressive Werte?

Ja, natürlich! Mehr noch: Nur moralische Politik kann breitere reformerische Allianzen begründen. Ein Beitrag für das „Kurswechsel“-Blog der IG-Metall.

Progressive haben Schwierigkeiten, über ihre Werte zu sprechen. Das hat eine Reihe von Ursachen. Eine davon ist gewiss, dass es seit jeher die Konservativen waren, die Werteapostel vorschickten, um progressive Reformen zu verhindern. Das war schon zu Zeiten von Kaiser- und Königtum so, als gesellschaftliche Hierarchien als natürliche, moralische Ordnung gerechtfertigt wurden, das war später so, als etwa Emanzipationsbemühungen der Frauen mit Hinweisen auf Familienwerte abgelehnt wurden. Werte wie Monstranzen vor sich herzutragen ist deshalb mit Rückwärtsgewandtheit verbunden und mit pfäffischer Instrumentalisierung von Moral zur Rechtfertigung überholter Verhältnisse. Zudem standen progressive gesellschaftliche Kräfte mit den Rationalisierungsbemühungen der Aufklärung im Bündnis und die verließ sich lieber auf vernünftige Erwägungen und Wissenschaft als auf „Werte“. Dann spielte gewiss eine Rolle, dass der Marxismus während vieler Jahrzehnte den Linken mehr als nur eine Prise Skepsis gegen „ethisches Handeln“ einimpfte. Einerseits, weil er einen objektiven historischen Prozess behauptete, der von den politisch Engagierten nur Einsicht in das historisch Notwendige, aber keineswegs so etwas wie moralische Entscheidungen verlangte, andererseits weil er den Klassenkampf als Motor der Geschichte ansah. Und in diesen Klassenkämpfen ist nicht Moral der Beweggrund für Engagement, sondern das, was man im Jargon dieser Zeit das „Klasseninteresse“ nannte. In dieser Geschichtsbetrachtung verfolgen die Unterprivilegierten ihre Interessen, die Privilegierten kämpfen für die ihren. In diesem Zusammenprall war für Moral keine Rolle vorgesehen, sondern die Einsicht gesellschaftlicher Gruppen in ihre Interessen. In entideologisierter Form lebt diese Haltung bis heute fort, gewiss auch in den Gewerkschaften, die sich lange primär als Interessenvertretung ihrer Mitgliedschaften sahen. Und auch wenn es gewiss nicht falsch ist, unterschiedliche gesellschaftliche Interessen zu betonen, so ist es doch fragwürdig, sie als den primären und alleinigen Antrieb zu betrachten, weshalb sich Menschen für etwas stark machen, weshalb sie für etwas eintreten. Ironischerweise hat diese Haltung eine gewisse Verwandtschaft mit diametral entgegengesetzten Auffassungen, etwa dem wirtschaftsliberalen Postulat des „Homo Oeconomicus“, der Überzeugung also, dass Menschen primär ihrem ökonomischen Eigennutz folgen. Diese bizarre Paradoxie fällt Linken meist gar nicht auf.

Aus all diesen Gründen haben Progressive bis heute eine Aversion dagegen, ihre Auffassungen als „werteorientiert“ zu bezeichnen. Dabei ist es, wie der amerikanische Philosoph Michael Walzer auf schlichte Weise feststellt, „in Wahrheit die Linke, deren Politik auf Werten basiert“. Wenn man sich über Unrecht empört, steckt meist moralische Entrüstung dahinter. Wer krasse materielle Ungleichheiten anprangert, tut das meist, weil sie dem Gerechtigkeitsgefühl widersprechen. Und dennoch wäre es vielen Progressiven einfach irgendwie peinlich, zu sagen, dass sie von Werten, von einem Ethos motiviert sind.

Um das am Beispiel der Frage der sozialen Gerechtigkeit zu verdeutlichen: Was kann Menschen dafür motivieren, für mehr materielle Gleichheit einzutreten?

Natürlich, man kann sich dafür einsetzen, weil man der Gruppe der materiell Unterprivilegierten angehört und die kühl kalkulierende Erwartung hat, dass die Realisierung von mehr Gleichheit einem nützt, dass sie in meinem ökonomischen Interesse ist. Selbstverständlich ist das eines der Motive, warum Menschen für soziale Gerechtigkeit eintreten – weil sie annehmen, dass sie selbst, höchstpersönlich dann etwas gewinnen würden. Aber ist das wirklich das stärkste Motiv, das die Menschen antreibt? Selbst bei grob Unterprivilegierten ist meist nicht das kalte ökonomische Kalkül der Nutzenmaximierung das, was sie anstachelt. Mindestens so wichtig ist ihr Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, das Gefühl, dass sie nicht bekommen, was ihnen zusteht, dass ihr materieller Mangel also verbunden ist mit Respektlosigkeit und dass sie sich in ihrer Würde gekränkt fühlen von denen, die den Hals nicht voll kriegen können, während sie für anständige Arbeit nur Peanuts abbekommen etc.

Das zweite Motiv, warum Menschen für mehr Gleichheit, für eine egalitärere Einkommensverteilung eintreten, ist, weil sie verstehen, dass das nicht nur für die heute Unterprivilegierten, sondern für die Gesellschaft als Ganze, also für Alle nützlich ist. Dass eine Gesellschaft, in der alle Bürger aus ihrem Leben etwas machen können, in der alle Bürger einen fairen Anteil haben und die nicht in grobe Ungleichheiten zerrissen ist, einfach als Gesellschaft besser funktioniert; dass die Institutionen besser funktionieren, dass auch die Wirtschaft besser funktioniert. Diese Motivation ist von einem Verständnis von Gemeinnutz getragen und vom Wissen, dass die bloße Verfolgung meiner engen Eigeninteressen schädlich ist – für das Gemeinwesen und letztlich auch für mich. Wenn ich, selbst als Wohlhabender, meine materiellen Interessen rücksichtslos vertrete, werde ich vielleicht einen gewissen Nutzen haben (ich muss vielleicht weniger Steuern und meinen Arbeitern weniger Lohn zahlen), aber ich habe auch einen Schaden, der diesen Nutzen möglicherweise mehr als aufhebt (ich muss beispielsweise Angst haben, im Park von einem Armen ausgeraubt oder erschlagen zu werden).

Das dritte Motiv ist natürlich, und wir wissen das alle: dass ich als Bürger für soziale Gerechtigkeit, für eine egalitäre Gesellschaft eintrete, weil es meinem ethischen Kompass entspricht. Weil wir es als einen moralischen Wert ansehen, der unser Handeln leitet.

Natürlich sollten wir uns vor Moralisieren hüten, denn süßlicher Moralismus hat etwas Uncooles. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass breitere gesellschaftliche Allianzen immer von einer geteilten Moralität zusammengehalten werden. Will ich mehr Menschen für gesellschaftliche Reformen  gewinnen (für einen „Kurswechsel“ , wie es im Namen dieses Blogs heißt), als jene, in deren engstem Interesse sie sind, dann ist die zweitere und drittere Motivation entscheidend.

Erfolgreiche Politik ist immer „Moral Politics“, wie der US-Sprachwissenschaftler George Lakoff schreibt. Oft fragen sich Beobachter und politische Kommentatoren, warum Menschen, etwa bei Wahlen, gegen ihre „Interessen“ abstimmen. Warum weiße Amerikaner aus der Arbeiterklasse für die Republikaner stimmen, die dann die Steuern für Reiche senken; umgekehrt gab es in Deutschland in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts eine illustre Feuilletondebatte, die die Frage wälzte, warum gutverdienende Bobos der oberen Mittelschicht denn bei Wahlen andauernd die Grünen oder die Sozialdemokraten wählen, die beide für einen funktionstüchtigen Staat und für den Wohlfahrtsstaat eintreten, statt dass sie die FDP wählen, was angeblich doch viel mehr ihren ökonomischen Eigeninteressen entsprechen würde. Die Antwort ist in beiden Fällen dieselbe: Weil die Bürger nicht primär ihrem materiellen Interesse folgen, sondern ihren Werten. 

Breitere gesellschaftliche Allianzen werden von Werten zusammengehalten. Es ist kein Zufall, dass diese kontroverse Debatte, ob Linke denn „ethische Fragen“ ins Zentrum rücken sollen, bereits im deutschen Revisionismusstreit des frühen 20. Jahrhunderts hochkam. Die orthodoxen Marxisten insistierten auf die puristische Eigenständigkeit des Proletariats,  sozialdemokratischen Modernisierer um Eduard Bernstein waren dagegen der Auffassung, dass in einer modernen Gesellschaft über Klassengrenzen hinweg Allianzen geschmiedet werden müssen und dass das nur geht, indem man Bürger für die progressiven Ideale gewinnt. An dieser Aufgabe hat sich im Grunde nichts geändert. Progressive sind nicht nur für Fairness, gleiche Chancen für Alle, für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sie sind nicht nur deshalb dafür, dass auch Arme eine grundlegende materielle Ausstattung erhalten und Arbeiter einen fairen Lohn, damit auch sie ein Leben in Würde führen können, weil das den simplen materiellen Interessen ihrer Klientel entspricht.

Sondern sie sind für all das, weil das aus ihren Idealen entspringt. Menschen machen sich für etwas stark, weil sie Ideale haben und weil diese Ideale sie motivieren.

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