Wir gegen Sie

Wie Populismus funktioniert. Und was man bedenken muss, wenn man ihm den Wind aus den Segeln nehmen will.

Dany Cohn-Bendit, Vorsitzender der Grünen Europaparlaments-Fraktion, hat mich eingeladen, die Keynote-Speech beim morgigen Colloquium „New Look on the right-wing Populism in Europe“ zu halten. Im Vorfeld hab ich schon mal diesen thesenhaften Essay verfasst.

Rechtspopulistische Parteien gewinnen in Europa Wahlen – Österreich, die Niederlande, Ungarn, Italien. Die Liste ließe sich fortsetzen. Da und dort ziehen sie in Regierungen ein, in Ungarn regieren sie und haben eine verfassungsgebende Mehrheit im Parlament. Aber auch da, wo Rechtspopulisten keine spektakulären Wahlerfolge erzielen, gibt es so etwas wie populistische Stimmungen. Anti-Ausländer-Stimmungen, Anti-Islam-Stimmungen oder einfach einen Verdruss, an der Etablierten-Politik, der weite Kreise zieht und sich mal in unspezifischen Zorn auf „die da oben“, dann wieder einfach in bloßem Desinteresse der Bürger äußert. So äußern in Deutschland 17 Prozent der Bürger, sie haben großes oder sehr großes Vertrauen in die politischen Parteien, 82 Prozent dagegen betonen, sie hätten wenig oder gar kein Vertrauen in die politischen Parteien. Dass „die da“ – die etablierte Politik, die liberalen Eliten, „die Medien“ – keinen Klartext reden, um die Probleme herumreden, gar nicht wissen, wie es den normalen Leuten ginge, ja, dass sie sich dafür ja überhaupt nicht interessieren würden, auf solche groben Thesen können sich in weiten Teilen unseres Kontinents wohl eine überwiegende Mehrheit der Bürger einigen.

Dieses anschwellen populistischer Gefühlslagen wird dann meist mit Begriffen erklärt, die nicht ganz falsch sind, die aber oft auch mehr verwirren als sie erklären.

Eine davon ist der von den „Modernisierungsverlierern“. Er unterstellt, dass sich in einem Segment der Bürgerschaft Chancenarmut, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst konzentrieren und diese deshalb den, wie es dann gerne heißt, „populistischen Rattenfängern“ nachrennen. Dieses Argument ist aber schon alleine deshalb nicht überzeugend, da es erstens politische und historische Konstellationen gab, in denen gerade Unterprivilegierte durchaus für positive Gesellschaftsveränderungen mobilisierbar waren. Wenn sie sich heute deprimiert und aggressiv abwenden, lässt sich das mit ihrem sozialen Status allein jedenfalls nicht hinreichend erklären, wenn der Faden zwischen ihnen und der demokratischen Politik reißt, dann ist das Folge einer Kommunikationsstörung und nicht bloß Folge ihrer Chancenarmut.

Ein zweiter beliebter Begriff ist der von der „Politikverdrossenheit“. Dieser Begriff insinuiert: Die Politik macht ihre Sache, aber die Bürger sind verdrossen. Dass sich die Bürger nun einmal leider für Politik nicht mehr interessieren. Nicht die Politik ist schuld, die Bürger sind schuld. Allenfalls ist die Politik eben so, weil sich die Bürger nicht mehr interessieren. Das ist zwar nicht falsch, aber natürlich ist das Gegenteil ebenso wahr: Die Bürger interessieren sich nicht, weil die Politik ist, wie sie ist.

Wir müssen diese unterkomplexen Begriffe zur Seite lassen, weil sie zu wenig erklären, weil sie das Phänomen nicht ausreichend beschreiben und deshalb der Suche nach Gegenstrategien im Wege stehen.

Die Bürger gegen „die Politik“
Drei Aggregatszustände des Verdrusses

Populistische Stimmungen gewinnen an Macht, wenn die kommunikativen Fäden reißen, die die politischen Repräsentanten mit der Bevölkerung verbinden. Von einer „Sprachstörung“ redete Joachim Gauck, der gemeinsame Präsidentschaftskandidat der deutschen Sozialdemokraten und Grünen. Der britische Politikwissenschafter Colin Crouch hat in diesem Zusammenhang von „Postdemokratie“ gesprochen, ein Begriff, der institutionelle Veränderungen, mediale und politische Konstellationen und politische Emotionslagen zusammenfasst. Crouch: „Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“ Postdemokratie heiße daher, so Crouch: „Wir haben Demokratie, wir haben die Institutionen, aber eigentlich interessieren sie niemanden mehr so richtig. Die Bürger wählen, aber eigentlich wissen viele nicht, wen sie wirklich wählen sollen. Die Demokratie existiert weiter, aber jenseits davon hat die Demokratie ihre vitalen Energien verloren.“ Die Bürger wenden sich ab. Frustriert. Aggressiv. Manchmal nur indifferent. Sie schleppen sich lustlos ins Wahllokal. Oder stimmen ab, mit dem alleinigen Ziel, ES DENEN mal zu zeigen. Diese Bürger sind das Reservoir für populistischen Protest.

Der Begriff von den „Modernisierungsverlierern“ ist deshalb irreführend, weil er unterstellt, nur ein relativ klar umgrenztes soziales Milieu sei empfänglich für populistische Sentiments: die frustrierten Unterprivilegierten, die Prolos, die dann gewissermaßen ihresgleichen wählen: Hemdsärmlige Radaupolitiker. Die Realität zeigt, dass es aber durchaus verschiedene Betriebsmodi des populistischen, an der „etablierten“ Politik frustrierten Protestes gibt, wobei oft sozial-ökonomische Motive keine allzu große Rolle spielen.

Hier gibt es, erstens, jene, die der Parteienanordnung als solcher zunehmend reserviert gegenüber stehen, die sie etwa so charakterisieren würden: hier gibt es eine unbegründete und überholte „Parteilichkeit“, nichts als Gezänk, kleinliche Streitereien um Vorteile im politischen Spiel. Deswegen, so diese Haltung, würden Politiker nicht nach den besten Lösungen suchen, sondern primär trachten, etwaige Vorschläge der Konkurrenz zu verhindern, damit diese nicht punkten könne – und vice versa. Die Kritik an den politischen Parteien aus dieser Perspektive lautet so, dass sie selbst einfachste praktische Lösungen für Probleme nicht mehr zu finden imstande ist, weil es den Parteien nur um taktische Vorteile für sie selbst oder allenfalls ihre Klientels geht und sie sich gegenseitig blockieren. Jene, die solchen Deutungen nahestehen, definieren sich selbst gerne als „Jenseits des Parteiensystems“. Selbst wenn diese Bürger manchmal etablierte Parteien wählen, dann nie aus vollem Herzen, sondern sie wählen – als kleinstes Übel – Politiker, die sie trotzdem verachten, wenngleich eben nur etwas weniger als die der Konkurrenz. Wir können hier von einem Verdruss der bildungsbürgerlichen Mitte sprechen. Es ist übrigens durchaus so, dass auch Parteien wie die „Grünen“ von dieser „politischen Emotionalität“ profitieren können, wenn sie sich als „unideologisch“ und „sachorientiert“ präsentieren. So könnte sich der auf dem ersten Blick überraschende Sachverhalt erklären, dass etwa in Deutschland unter keiner Parteianhängerschaft die Zahl derjenigen, die sich als „politisch uninteressiert“ bezeichnen, so groß ist wie bei den Grünen. (Walter, Seite 75). Diese – potentiellen – Wähler bezeichnen sich, so könnten diese Daten interpretiert werden, am üblichen Spiel der Politik-Politik uninteressiert, weil sich „Sachlichkeit“ bevorzugen, „Parteilichkeit“ aber verabscheuen.

Hier gibt es, zweitens, dann das, was man provisorisch den unpolitischen Yuppieprotest nennen könnte: Bürger, die den Staat als bürokratisches Monstrum betrachten, das von „den Parteien“ gekapert wurde, um es sich an seinen Futtertrögen gut gehen zu lassen. Motto: Die leben auf unsere Kosten. Gerade in ihren Anfangsjahren gewann etwa die FPÖ Jörg Haiders vornehmlich Wähler mit solchen Einstellungen. Auch durchaus etablierte Parteien erliegen nicht selten der Versuchung, auf dieser Klaviatur zu spielen – etwa die deutschen Freidemokraten Guido Westerwelles.

Aber auch wenn Parteien, die wir instinktiv als keineswegs populistisch bezeichnen würden, im Einzelfall von diesen beiden Gefühlslagen profitieren können, so sind diese Emotionen doch primär und im allgemeinen den genuin populistischen Formationen günstig, die sich selbst als „ganz anders“, als Antipoden der Politik-Politik präsentieren. Den überwiegenden Zuspruch erhalten sie freilich aus dem dritten großen Milieu, in dem populistische Sentiments wuchern: dem Milieu der jeweiligen „einheimischen“ Unterprivilegierten. Diese sind, keineswegs mehr nur instinktiv, sondern sehr manifest, der Auffassung: dass sich im Grunde niemand für sie interessiert; dass sie links liegen gelassen werden; dass keiner weiß, wie es ihnen wirklich geht in ihren „stigmatisierten Wohnvierteln“; dass sie eigentlich keine der etablierten, demokratischen Parteien repräsentiert. Das hat auch zu tun mit der sozialen Zusammensetzung des politischen Personals der allermeisten demokratischen Parteien. Dieses rekrutiert sich, längst auch bei „Arbeiterparteien“ wie der Sozialdemokratie, meist auch bei den Spitzenfunktionären konservativer Volksparteien (sofern sie nicht aus dem ländlich-bäuerlichen Milieu stammen), bei Grünen und Liberalen sowieso, aus Akademikern, Angehörigen der oberen Mittelschicht, Beamten. Kurzum: Aus Menschen, die von ihren gesamten Lebensumständen und ihrem personalen Habitus, ihrer Art, sich zu kleiden, zu sprechen und sich zu bewegen, mit diesen Unterprivilegierten nichts mehr zu tun haben. Nicht selten gibt es nicht einen Spitzenfunktionär, nicht eine Spitzenfunktionärin, von denen diese Bürger sagen würde: Ja, der ist so wie ich. Im Gegenteil, sie würden eher sagen: „Die“ leben ja ganz anders. „Die“ leben ja ganz wo anders. „Die“ haben ja gar keine Ahnung, wie es uns geht. Das ist aber, so banal das klingt, für die Repräsentation von Milieus, für die Chance, sie durch Fäden der Organisation und der Kommunikation mit dem demokratischen Prozess zu verbinden, keine Kleinigkeit. Die milieumäßige Verengung der demokratischen Parteien auf ein, zwei Funktionärstypen, ist ein fruchtbarer Humus für Populisten.

Ich meine, um das bisher Gesagte zusammenzufassen und um eine Interpretation zu versuchen, nun Folgendes: Zunächst sind die drei grob und holzschnittartig skizzierten Aggregationszustände – also der Verdruss der bildungsbürgerlichen Mitte, der Yuppie-Protest und das Gefühl der Unterprivilegierten, nichts mehr zu zählen – in der Realität nicht so trennscharf voneinander geschieden. Als soziale Milieus mögen sie noch ziemlich klar voneinander geschieden sein, aber die Argumentationsreihen, die im Kopf der Menschen herumspuken, sind natürlich untereinander verbunden in Gesellschaften, die durch (mediale) Kommunikation zusammengehalten wird. Simpel gesagt: der durchschnittlich verdrossene Unterprivilegierte ist sowohl der Meinung, dass sich die Politik für ihn nicht interessiert, als auch, dass sie den Staat ausplündere, als auch, dass die Politik ein Gezänk sei und sich die Parteien nur für ihren taktischen Vorteil interessieren. Eher lässt sich sagen, um der Realität nahe zu kommen, dass bestimmte populistische Vorstellungsreihen in bestimmten Milieus auf fruchtbareren Boden fallen, andere in anderen – und dass sie sich gegenseitig aufschaukeln. Das Ergebnis ist ein allgemeines, nebulöses, waberndes populistisches Klima.

Dies ist ein sehr durchgängiges Phänomen, was sich schon daran zeigt, dass all das nicht nur auf die europäischen Populismen mit ihrer recht ähnlichen Agenda zutrifft, sondern etwa auch auf die populare Revolte der amerikanischen „Tea-Party“-Leute mit ihrer Beschwörung der Werte der einfachen Amerikaner und dem Feindbild der „liberalen Eliten in Washington“ (oder, wenn es sich auf die liberalen Medien bezieht, „in New York“).

Ich möchte hier also die Auffassung untermauern, dass dieses Wir-Gegen-Sie-Setting, diese symbolische Ordnung von „Wir, die normalen, einfachen Leute“ gegen „Die, die Eliten, die da Oben, die Politiker“ das Eigentliche ist, was der populistischen Konstellation Energie zuführt, und dass die damit verbunden politischen „Programmatiken“ nur das sekundäre sind, die darauf andocken. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Programmatiken völlig austauschbar und nebensächlich sind, aber sie gewinnen erst ihre Macht, indem sie in die populistische Ordnung eingepasst werden.

Das gilt auch für jene „Programmatik“ – wenn wir das provisorisch so nennen wollen -, die heute praktisch alle populistischen Formationen in Europa prägt: die Anti-Migrations-Politik, die Anti-Ausländer-Haltung.

„DIE wissen doch gar nicht, wie es UNS geht“
Die populistische Rhetorik

Es ist ja nicht nur so, dass diejenigen, die den Populisten zusprechen, einfach etwas „gegen Ausländer“ haben. Diese Xenophobie wird ja sofort in die populistische Ordnung eingefügt, von der Art: WIR haben ja die Probleme mit den Ausländern, WIR leben ja mit denen zusammen, UNSERE Kinder gehen ja in Kindergärten, wo alle Ahmed und Aysche heißen – aber DIE wohnen ja in anderen Wohnvierteln. DIE Politiker und DIE liberalen Eliten reden von Multikulturalität und Integration, SIE schwingen schöne Reden oder reden um den heißen Brei herum, aber wenn mal jemand die Wahrheit sagt, dann wird ihm das Wort verboten. WIR, die einfachen Leute, dürfen nicht einmal mehr sagen, wie es wirklich ist.

Ist eine solche populistische Konstellation einmal etabliert, womöglich mit einer populistischen Partei und, im schlimmsten Fall, mit einem charismatischen Parteiführer, dann ist dagegen sehr schwer argumentativ vorzugehen. Das populistische Argument wird dann selbstevident. Jede Widerrede wird dann in ein Argument für die populistische Konstellation verwandelt.

Die populistische Thematik wird dann zum „Klartext“ ernannt, zur „bitteren Wahrheit“, die DIE nicht hören wollen. Denn SIE würden Tabus errichten. Der Populist ist der Mutige, der auf Seiten der schweigenden Mehrheit der einfachen Leute steht und diese Tabus bricht. Er ist der, der die satten, abgehobenen Eliten ärgert (was allein schon eine Freude ist). Wer den populistischen Thesen widerspricht, der bringt kein Argument vor, sondern der will das Tabu aufrecht erhalten. In knappster Form brachte das ein legendäres Wahlplakat von Jörg Haiders FPÖ aus den neunziger Jahren auf den Punkt, dessen Textzeile lautete:

„SIE sind gegen IHN, weil ER für EUCH ist.“

Nicht unähnlich, nur etwas bizarrer und grotesker, war die Titelzeile der „BILD“-Zeitung am Höhepunkt der Sarrazin-Debatte:

„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! – BILD kämpft für Meinungsfreiheit“

„Das wird man doch noch sagen dürfen!“
Politische Correctness, Tabus und die Meinungsfreiheit

Die plakative Behauptung von Tabus und die medial inszenierte Durchbrechung derselben ist der argumentative Dreh- und Angelpunkt populistischer Rhetorik. Solche „Pseudotabu-Debatten“ folgen dem von Alexander Hensel so schön beschriebenen Mechanismus: „Zunächst wird die eigene politische Position zum Tabu stilisiert. So kann die .. kollektive Ablehnung von Tabus aktiviert werden. Dies ermöglicht, etwaige Kritik der eigenen Position zu diskreditieren, indem diese als bloße Verteidigung des vorgeblichen Tabus beschrieben wird. Als solche kann sie, ungeachtet ihres Inhalts, als Angriff auf Pluralismus und Meinungsfreiheit umgedeutet werden. Der Pseudotabubrecher selbst inszeniert sich demgegenüber als intellektuell redlicher Querdenker und mutiger Verteidiger dieser demokratischen Werte. … Zweitens zieht ein inszenierter Tabubruch meist ein hohes Maß an Publizität nach sich. … Drittens kann die inhaltliche Position des Pseudotabubrechers immunisiert werden, indem jegliche Kritik seiner Position in eine Verteidigung des konstruierten Tabus umgemünzt wird.“ (In: Alexander Hensel/Daniela Kallinich/Katharina Rahlf: Parteien, Demokratie und gesellschaftliche Kritik, Stuttgart 2011, Seite 243)

Das ist natürlich unredlich, weil der Pseudotabubrecher gerade das, was er wie ein Popanz vor sich herträgt – die „Meinungsfreiheit“ -, dementiert: die Gegenmeinung wird diskreditiert, der Kritiker des Tabubrechers unmöglich und damit mundtot gemacht. Das ist insofern durchaus bizarr, als sich die populistischen Pseudotabubrecher immer als Kämpfer gegen „Sprechverbote der politischen Correctness“ gerierten. In gewissem Sinn hat aber die „Politische Correctness“ die Seiten gewechselt – so dass es mittlerweile oft als politisch inkorrekt gilt, dem populistischen „Klartext“-Redner auch nur zu widersprechen. Mittlerweile jedenfalls wird das „Recht auf Meinungsfreiheit“ verdammt oft mit dem Recht verwechselt, nicht kritisiert zu werden. Das Anmaßende an dieser Operation fällt nicht immer gleich auf, weil die so Sprechenden für sich in Anspruch nehmen, sie würden als einzige „Klartext“ reden, während alle anderen um den heißen Brei herumreden, lügen usw. Wenn in solch einem Sinn von „Meinungsfreiheit“ geredet wird, geht es aber natürlich nicht um „Meinungsfreiheit“, sondern darum, in einer diskursiven Konstellation einen Vorteil gegenüber Andersdenkenden zu erzielen. „Meinungsfreiheit“ ist dann nicht die Grundlage, auf der argumentiert wird, sondern selbst ein Totschlagargument, das besonders dann gute Dienste leistet, wenn man selbst nicht in der Lage ist, plausibel und vernünftig zu argumentieren. Motto: Wer meine Meinung nicht teilt, beschneidet meine Meinungsfreiheit.

Die These von der „Einschränkung der Meinungsfreiheit durch politische Correctness“ leistet den populistischen Politikern und ihren publizistischen Helfern jedenfalls gute Dienste. Natürlich kann man einwenden, dass es die von ihnen behaupteten Tabus gar nicht gibt, dass heutzutage ohnehin alles gesagt werden kann und auch gesagt wird, und dass gerade in einer medialen Welt, die vom Skandal lebt und von provokanten Thesen, noch die bizarrste Meinung in die entlegensten Wohnzimmer geliefert wird.

Aber wenn man sich mit dem Populismus auseinandersetzen, wenn man sein Wirken verstehen und sich Gegenstrategien überlegen will, dann soll man immer auch die Frage stellen, ob und inwiefern er nicht doch recht hat. Gibt es, auch wenn es keine Meinungen gibt, die zu Äußern verboten wäre, heute nicht doch so etwas in den liberalen westlichen Demokratien wie einen Pluralismus im Rahmen des Erlaubten? Gibt es so etwas wie einen Korridor der erlaubten Meinungen, sagen wir: von rechtskonservativ bis sehr gemäßigt linksliberal, innerhalb dem die „ernstzunehmenden“ Urteile verortet sind? Vielleicht ist es doch so: Wer sich außerhalb dieses enger werdenden Korridors positioniert, der kann durchaus seine Meinung äußern, er kann auch einen hübschen Haufen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ja, er wird es womöglich sogar zu einer großen Nummer im Medienbusiness bringen, aber er wird immer mit einem Bein eine Lachnummer sein. Man wird ihn Quergeist nennen, oder Spinner. Vielleicht gibt es eine feine, unsichtbare, aber stets zu beachtende Linie, innerhalb derer sich die „ernsthaften“ Meinungen zu bewegen haben, jene, die als „seriös“ geadelt werden wollen. Und womöglich ist in diesem Sinne die Behauptung von „Tabus“ durch die populistische Rhetorik nicht gänzlich falsch.  

Stets muss der Junkie die Dosis steigern.
Der Rechtspopulismus und die Medien

Es ist offensichtlich und allgemein anerkannt – muss also hier nicht allzu ausführlich referiert werden -, dass jüngere Entwicklungen der medialen Öffentlichkeit das Entstehen populistischer Stimmungen und den Aufstieg anti-etablierter politischer Formationen begünstigen. Boulevardmedien, private Fernsehanstalten und in jüngster Zeit neue Onlinemedien stehen in harter Konkurrenz um Quoten und Klicks. Die Journalisten selbst stehen in Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Die schräge These, die bizarre Provokation, der Skandal sind wichtig für diesen Kampf um Beachtung. Diskussionen müssen zum Duell werden, Krach und Krawall haben Entertainement-Effekt. Auch wenn einem das nicht gefällt – dem kann man sich kaum entziehen. Faktisch immer sind etablierte Politiker aber in solchen Konstellationen in der Defensive. Sei es, weil sie aus Rücksicht auf Amt und Diplomatie vorsichtig formulieren müssen; sei es, weil sie aus Angst, etwas zu sagen, was gegen sie ausgelegt werden könnte, gar nichts sagen und sich in nebulöse Satzkaskaden hineinreden; sei es, weil ihnen Spin-Doctoren einreden, sie müssen möglichst knackige PR-Botschaften in 50-Sekunden-Soundbites senden – am besten im Stil sinnfreier Waschmittelwerbung; sei es, weil die komplexen Probleme von Regierungspolitik sich schlechter zu knalligen Sätzen verdichten lassen als simple radikaloppositionelle Attacken; oder sei es, weil sie sich in jahrzehntelanger Gremienarbeit und durch selbstreferentielle Politdiskurse das normale Sprechen abgewöhnt haben (sehr oft ist all das zusammen der Fall).

Jedenfalls ist in solchen Konstellationen der Anti-Politiker, der sagt, „was die einfachen Leute denken“, schon auf der Gewinnerstraße, bevor die Scheinwerfer überhaupt eingeschaltet sind.

Talentierten rechtspopulistischen Politiker gelingt es, die Medien in jedem Fall zu ihren Verbündeten zu machen. Sie präsentieren sich als „echt“, als „authentisch“, und werden gerade so zum Star. Die Medien verkaufen mit dem Star ihre Auflage. Umso öfter heben sie den Populisten auf die Titelseite, was seine Star-Aura noch verstärkt. Feiern sie ihn, kann es ihm recht sein. Warnen sie vor ihm und brandmarken sie seine Gefährlichkeit, kann es ihm genauso recht sein – dann ist er wieder der große Tabubrecher, der vom gesamten Establishment bekämpft wird, kritische Berichterstattung wird als Missbrauch der Pressefreiheit charakterisiert, die ihn, der unbequeme Wahrheiten ausspricht, mundtot machen will (was es ihm erlaubt, Einschränkungen der Pressefreiheit anzudrohen, ohne dass es einen Aufschrei der Empörung gäbe). Ob der Politiker tatsächliche „Star-Qualitäten“ hat oder nicht, ist übrigens weitgehend unerheblich: Es funktionierte bei Haider und Fortuyn, bei Strache und Wilders, bei Bossi und Sarah Palin.

Diese mediale Konstellation führt aber nicht nur dazu, dass der rechtspopulistische Politiker im Gespräch bleibt und einen überproportional hohen Anteil von Aufmerksamkeit auf sich zieht, das politische Klima als ganzes wird sukzessive verroht und radikalisiert. Denn der populistische Politiker muss natürlich die Dosis stets erhöhen: Eine Aussage, die gestern noch als provokant galt, ist heute schon bekannt und regt deswegen niemanden mehr auf, weshalb sie durch eine noch ärgere Provokation getoppt werden muss. Mehr noch: Die Strategie von Skandal und Skandalisierung ist mit der Zeit bekannt und führt zu einer Ermüdung des Publikums – weshalb noch ärger provoziert werden muss, um überhaupt die Erregungsschwelle zu überschreiten. Der Populist verabreicht Gift in kleinen, aber immer wachsenden Dosen, er ist aber selbst ein Getriebener seiner Strategie.

Wie Populismus funktioniert – ein erstes Resumee

1. Der Aufstieg populistischer Stimmungen und populistischer Parteien ist ein Symptom für Sprachstörungen zwischen den demokratischen Parteien und Teilen – manchmal großen Teilen – der Bevölkerung.

2. Politik wird als kleinliches Parteiengezänk erlebt.

3. Die politischen Parteien werden als eigensinnige Apparate empfunden, die den Staat kapern.

4. Politiker werden als „die da“ gesehen, die die Sprache der normalen Leute nicht mehr sprechen und ihre Probleme nicht kennen.

5. Politiker werden als unauthentisch, als unecht empfunden.

6. Es wird die Herrschaft einer sozialen, politischen und lebenskulturellen Elite behauptet, die bestimmt, was läuft – ja, wie gedacht werden muss.

7. Boulevardmedien erheben sich zum Fürsprecher der „einfachen Leute“ und sie gehen eine Symbiose mit Politikern ein, die dasselbe von sich behaupten.

8. Skandalisierung wirkt noch als Bestätigung dieser Behauptung und führt der populistischen Stimmung neue Energie zu.

 

Die „Wahrheiten“ des Populismus ernst nehmen
Ein paar Gedanken zu Gegenstrategien

Die populistische Konstellation ist also eine komplizierte, diffizile Sache, sodass simple Versuche, darauf zu reagieren, zu kurz greifen und nur zu Frustration und Erfolglosigkeit führen. Die eine, einfache Lösung gibt es nicht, sondern nur ein Bündel von Gegenstrategien.

Die simpelste und gleichzeitig unsinnigste Lösung ist, den Erfolg der Populisten auf ihre Programmatiken zurückzuführen – und in diesen Punkten der angenommen Volksstimmung entgegenzukommen. Etablierte politische Parteien haben das etwa in der Ausländerpolitik gemacht und sind damit nur gescheitert. Es ist auch klar, warum: Erstens haben sie damit die prinzipielle Legitimität und Berechtigung der populistischen Agenda in den Augen der Bürger nur bestätigt. Vor allem aber hat das an der Grundkonstellation nichts geändert: Politische Parteien, die in den Augen der Menschen das „politische Establishment“ darstellen, werden den Anti-Politikern nicht den Wind aus den Segeln nehmen, wenn sie Teile ihrer Programmatik übernehmen. Denn das Entscheidende, was den Aufstieg der Populisten begünstigt, ist ihr antipolitischer Gestus. Im Gegenteil, wenn man ihnen entgegenkommt, sendet das das Signal: den lahmen Etabliertenpolitikern könne man Beine machen, wenn man die kraftvollen Populisten stärkt.

Eine in der linken Publizistik beliebte These ist, dass die Aushöhlung des Politischen durch gemäßigte Mittelwegpolitik, auf die sich moderne sozialdemokratische, christdemokratische, grüne oder liberale Parteien gemacht hätten, erst den Raum für die populistische Rebellion eröffnen. Weil die „normale“ Politik unideologisch geworden ist, die Parteien ununterscheidbar werden oder sich nur durch marginale Differenzen unterscheiden, verlieren die Bürger an Interesse, es gäbe auch niemanden mehr, der ihre Unzufriedenheit mit dem allgemeinen Lauf der Dinge eminent zur Sprache bringt – weshalb sie für die Rhetorik der Populisten empfänglich werden. Kurzum: Die Populisten sind die Gewinner, weil alle neoliberal geworden seien und die Links-Rechts-Unterscheidung ihre Trennschärfe verloren habe. Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe vertreten diese Auffassung mit Nachdruck und der amerikanische Intellektuelle Tony Judt hat das in dem letzten Buch vor seinem tragischen Tod folgendermaßen formuliert: „Eine Demokratie mit permanenten Konsens wird nicht lange eine Demokratie bleiben.“ Darin steckt gewiss mehr als nur ein Körnchen Wahrheit – der Rechtspopulismus gewinnt dann an Zulauf, wenn demokratische Politik es nicht mehr vermag, den Bürgern die Hoffnung zu geben, dass durch gute und ambitionierte Reformpolitik das Morgen besser als das Heute sein wird.

Freilich, der Fluchtpunkt dieses Arguments ist auch, dass die Mitte-Rechts-Parteien nur ein bisschen rechter, die Mitte-Links-Parteien ein bisschen linker werden müssten, sodass lebendigere, grundsatzorientiertere politische Konflikte entstünden – worauf sich das Problem des Populismus erledigen würde. Ganz so einfach ist das aber nicht, da die Zuschreibung „etabliert“, „Eliten-Partei“, „staatstragend“ versus „volksnah“, „rebellisch“, „anti-politisch“ eher eine vertikale Unterscheidung „Oben versus Unten“ illustriert, die durch die horizontale Unterscheidung „Links/Rechts“ nicht einfach ausgehebelt werden kann.

Es ist deshalb notwendig, immer auch die Frage aufzuwerfen, was an den populistischen Postulaten – und sei es auf verquere Weise – wahr ist und an den Antworten auf diese Frage die Gegenstrategien zu modellieren.

Dass Politik sich oft in kleinlichem Parteiengezänk erschöpft – ist wahr.

Dass der etablierte politische Apparat selbstreferentiell geworden ist, sich in seiner Sprache mit seinen Themen beschäftigt und den Bürgern allenfalls dann seine Ergebnisse zu „verkaufen“ versucht – ist wahr.

Dass in politischen Parteien über Codes kommuniziert wird und der, der hier erfolgreich sein will, sich diese Codes antrainieren muss, und dann oft nicht mehr in der Lage ist, auf normale Weise mit normalen Leuten zu sprechen – ist wahr.

Dass Politiker dann oft versuchen, „Übersetzungsleistung“ zu erbringen und den Leuten ihre Erfolge in PR-Sprache anzupreisen – ist wahr.

Dass sie deshalb oft mit Recht als unauthentisch erscheinen – ist wahr.

Dass das politische Personal der meisten Parteien sich auf politische „Professionals“ verengt hat, die allesamt dem oberen Mittelstand angehören – ist wahr.

Die demokratischen Parteien – und vor allem die Parteien der demokratischen Mitte – müssen diese Sachverhalte korrigieren, wenn sie populistischen Stimmungen begegnen wollen. Sie müssen sich also folgende Fragen stellen: Wie müssen wir die Rekrutierung des politischen Funktionärskaders verändern? Welche Sprache braucht demokratische Politik? Auf welche Weise können Fäden geknüpft werden, die die Politik mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verbinden?

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