Ich kann das Wort „Integration“ nicht mehr hören!

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Das „Multikulturelle Zentrum“ aus Trier hat mich eingeladen, die Festrede zu seinem 20. Geburtstag zu halten. Es war ein wunderbarer Abend mit tollen Leuten und ein schönes Fest, mit Band und Tanz bis in den Morgen. Die Rede können Sie hier lesen. 

Ich danke Euch herzlich für die Einladung, hier die Festrede zum 20. Geburtstag Eures multikulturellen Zentrums in Trier halten zu dürfen. Ich weiß ja gar nicht recht, wie ich zu dieser Ehre komme – weder bin ich mit diesem Haus hier verbunden, noch war ich jemals in Trier. Ich weiß nichts über die konkreten Probleme vor Ort. Und doch – oder gerade deswegen – habe ich mir überlegt, was würde ich denn hier sagen, wenn ich etwa ein Politiker wäre, aus Trier oder der Region, wenn ich zu einer solchen Festrede eingeladen werden würde. Ich würde wohl auf die Verdienste hinweisen, die das multikulturelle Zentrum sich erworben hat, die Verdienste um 
die Integration von Einwanderern. Um die Integration!
um ein friedliches und konfliktfreies Miteinander!
Und was weiß ich was alles. Also, ich würde eine nichtssagende Catchphrase an die andere reihen. „Integration“. „Friedlich, konfliktfrei“. „Miteinander“. Lauter Worte, die wenig aussagen, und das was sie aussagen, ist zur Hälfte falsch und fragwürdig. Weil wir nicht einmal wissen in dieser öffentlichen Rede, von der die Politikerrede ein Teil ist, von der Expertenreden ein anderer Teil und die Kommentare in den Medien ein weiterer Teil sind, was denn „Integration“ überhaupt sein soll. Vollkommene Assimilation? Dass Zuwanderer hier ein respektierter Teil unseres Gemeinwesens sein sollen? Dass die dafür irgendwelche Leistungen erbringen müssen? Dass die Gesellschaft irgendwelche Leistungen erbringen muss? Dass sie sich gefälligst anzupassen haben? Oder ein bisschen so bleiben dürfen, wie sie sind? 
Und was heißt schon miteinander? Inwiefern lebt denn in unserer Gesellschaft überhaupt jemand „miteinander“? Ich meine, miteinander lebe ich mit meinen Kindern, mit meinen engsten Familienmitgliedern vielleicht, vielleicht mit meinen Freunden oder mit den paar Leuten, mit denen ich wirklich „gemeinsam“ etwas mache. Aber worin genau besteht das „Miteinander“ des Bankdirektors mit dem Hartz-IV-Empfänger? Das Miteinander der alleinerziehenden Mutter mit Halbtagsjob aus der Innenstadt mit dem SUV-Fahrer mit Villa im Grünen? Leben die nicht mindestens so sehr nebeneinander her in einer komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaft, wie sie „miteinander“ leben? Und ist das denn grundsätzlich so schlecht, dieses nebeneinander her leben? Ich meine, natürlich ist es eine gute Sache, wenn ich meine Mitbürger in einer Gesellschaft in der wir gemeinsam leben, als Menschen ansehe, mit denen ich auf irgendeine Weise verbunden bin, durch Fäden der Kommunikation, durch was weiß ich was, aber es ist ja auch nicht so schlecht, dass Menschen, mit denen mich eigentlich nichts verbindet, die in Lifestyle, Auffassungen und Lebenszielen sehr anders sind als ich, dass wir einfach so nebeneinander herleben, so ohne großes Miteinander, aber auch ohne uns groß in die Quere zu kommen. Nicht, dass das nicht seine negativen Seiten hätte, dieses indifferente neben einander her leben in modernen Gesellschaften, aber es hat auch seine positiven Seiten: man ist nicht der Sozialkontrolle durch den Anderen ausgesetzt, man akzeptiert implizit, instinktiv und intuitiv, dass der andere sein Leben nach seinen Präferenzen zu gestalten vermag, weil man weiß, dass man im Umkehrschluss dann diesen Respekt auch vom anderen erwarten darf. 
Während ich so über all diese Fragen nachdenke, erinnere ich mich, dass ich am Höhepunkt der sogenannten Sarrazin-Debatte in eine dieser Talkshows ins Fernsehen eingeladen war und mit mir saß da eine Frau, die eine Bürgerinitiative aufgezogen hat gegen ein türkisches Kulturzentrum, das errichtet werden soll mitsamt einem Gebetsraum. Und da fiel wieder dieses Wort vom „Anpassen“. Und ich saß da und hab an der Diskussion teilgenommen und bin aber auch ein bisschen in meinen eigenen Gedanken abgeschwirrt, während die Debatte mit den bekannten Argumenten hin und her wogte. Und ich habe mir überlegt, wer diese Frau ist. Ich kannte sie ja nicht. Also, sie ist um die sechzig, hat dauergewelltes Haar, ist ein bisserl spießig gekleidet, so wie man das halt in diesem Milieu ist, also nicht besonders aufdringlich spießig, eher so normale Oma, die sich halt ein bisserl zurecht macht, wenn sie ins Fernsehen muss. Daheim hat sie wahrscheinlich diese dunklen, schweren Mahagonyeinbauschränke, wie man sie in den siebziger Jahren hatte und vor den Fenstern hängen Gardinen, auf den Schränken und Tischchen liegen Häkeldäckchen, und allerlei kitschiger Nippes steht herum. So stelle ich mir das vor und mit meiner Vorstellung liege ich wahrscheinlich nicht sehr falsch. 
Und da fragte ich mich, was versteht die Dame eigentlich unter anpassen? Der Lebensstil dieser Dame, die Art, wie sie lebt, die Werte, die sich hat, die waren vielleicht einmal das, was man so konformistischer Mainstream nennt, aber heute ist sie selbst natürlich eine Minderheit in der Gesellschaft. Sagen wir, ihren Lebensstil haben vielleicht zehn, fünfzehn Prozent der Bürger. Ihre Auffassungen davon, wie man leben soll, teilt eine kleine Minderheit. Meine Auffassungen teilen vielleicht auch zehn, fünfzehn Prozent. Dann gibt es wiederum viele, viele andere Lifestyle-, Weltanschauungs- und Lebenskulturgemeinschaften. Ich erzähle das, weil wir das einmal begreifen müssen. Früher gab es die große Masse, die gesellschaftliche Mitte des konformistischen Mainstreams, und dann gab es rundherum eine Korona aus Nonkonformisten, Hippies, Punks, was weiß ich was. Aber das ist ja längst Vergangenheit. Diesen Mainstream gibt es ja nicht mehr, und das haben wir doch längst begriffen, selbst diese Dame hat das längst begriffen. Nie würde sie fordern, dass ich mich an sie anpasse, weil sie intuitiv weiß, mit dem gleichen Reicht könnte ich fordern, dass sie sich an mich anpasst. Dass ich sage: Oma, jetzt ist Schluss mit Dauerwelle, und auch die Mahagonyeinbauschränke kommen in den Sperrmüll, die Zeit ist vorbei, tut mir leid Oma, du musst dich anpassen. Da würde die Oma doch sofort sagen: Leben und leben lassen. Sie leben, wie Sie wollen, und ich lebe, wie ich will. Aber wenn Integration eine Anpassungsleistung sein soll, woran soll man sich dann anpassen: An mich? An die Oma? An den Bankdirektor? An die alleinerziehende Studentin? 
Das funktioniert doch alles nicht mehr. 
Wenn ich ein Zuwanderer in dieser Gesellschaft wäre, und in gewisser Weise bin ich das, ich bin dritte Generation Einwanderer, mein Opa kam aus Ungarn und meine Oma aus Tschechien nach Wien, aber das war eine andere Zeit und eine andere Form von Migration, also, wenn ich ein Zuwanderer wäre, und ich würde das Wort „Integration“ hören, ich würde regelmäßig die Krise kriegen. Ich würde sagen: Ich kann dieses Wort nicht mehr hören! Integration, das tut so, als wäre es ein gesellschaftliches Ziel, zu meinen Gunsten, dass man etwas tun soll, damit ich voll integriert bin als respektiertes Mitglied dieser Gesellschaft und allen Chancen, die diese Gesellschaft zu bieten hat, aber in Wirklichkeit wird dieses Wort doch längst anders benützt. Gegen mich.
Das ist eine anherrschende Forderungsvokabel, das sprachliche Pendant einer vorgehaltenen Pistole: Integriere Dich! Aber dalli! Aber was ausreichende Integration ist, das bestimmen wir! Und wie sehr Du Dich anstrengen magst, wie sehr Du Dich bemühen wirst, es wird Dir nicht gelingen, es wird für uns immer zu wenig sein! Wir stellen unsere Integrationsregeln auf und verbinden sie mit Sanktionen, die greifen, wenn Du sie nicht erfüllst, damit Du schön zappelst und Angst hast, bei Deinen Integrationsanstrengungen, worauf Du natürlich erst recht versagst, weil, wie wir wissen, es ist sehr schwer, Leistungen zu erbringen, wenn sie mit Drohungen angestachelt werden, das wissen wir schon
aus der Schule, da ging die Physikschularbeit auch immer daneben, wenn die Zuchtrute der schlechten Note winkte. 
Integriert Euch, heißt heute: Wir wollen Euch hier nicht. 
Ich würde also sagen: Schluss mit Eurer ollen Integration! Lasst mich in Ruhe mit Eurer Integration, steckt sie Euch was weiß ich wohin!
Und das ist ja eigentlich nicht so schwer zu begreifen. Dafür braucht es doch nur Empathie. Empathie, das heißt, sich in andere hineinversetzen zu können. Das heißt, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel zu haben. Das heißt, mit den Augen des Anderen, mit den Augen meines Gegenüber sehen zu können. 
Und normalerweise können wir Menschen das doch ganz gut. Wenn ich ins nächste Kaffeehaus gehe und mich da an einen Tisch setze und da sitzt einer. Und ich sage dem: Du bist blöd, du stinkst, du bist zu nichts nutze, ich mag dich nicht. Na, was glauben Sie, wird der mich mögen? Wird der sich wohlfühlen im meiner Gesellschaft? Wird der das toll finden, dass er in meiner Gesellschaft sein darf? Nein, wir alle wissen, dass das eher nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein wird. Jeder weiß das, im persönlichen Umgang. Komischerweise begreifen das aber selbst lebenskluge und gebildete Menschen nicht, sobald es nicht um ein individuelles Gegenüber im Kaffeehaus geht, sondern um die Art und Weise, wie die sogenannte „Mehrheitsgesellschaft“ hier mit den Zugewanderten, den neuen Minoritäten umgeht. 
Und ich frage mich manchmal wirklich, wieso sind manche Menschen so unfähig, die Art und Weise, wie sie sprechen, darauf zu überprüfen, wie das beim Gegenüber ankommt. Ich meine, natürlich, wir wissen, dass es bei vielen tatsächlichen Rassismus gibt, dass dieses „die wollen sich nicht anpassen“ nur vorgeschoben ist, und sie in Wirklichkeit meinen, selbst wenn die sich anpassen, wenn sie sich Dauerwellen machen lassen, Mahagonyeinbauschränke und geblümelte Gardinen kaufen, dann will ich die trotzdem nicht hier haben. Wir wissen auch, dass da manche einfach ein zynisches politisches Spiel spielen, dass sie die Spannungen und die sogenannten Integrationsprobleme wollen, die sie scheinheilig beklagen, weil sie damit ihr populistisches Spiel spielen wollen. Aber ich gehe auf meine menschenfreundliche Art davon aus, dass das dennoch nur ein kleiner Teil jener ist, die uns hier mit miesen Rhetoriken das Land versauen. Und dass es bei sehr vielen tatsächlich ein Unvermögen gibt, überhaupt zu begreifen, wie das, was man sagt, beim anderen ankommt. 
Ich habe mich bei der Vorbereitung auf diese Ansprache ein bisschen im Internet kundig gemacht, was der Herr Sarrazin heute eigentlich so macht. Man hört ja gar nicht mehr so viel von dem, Gott sei Dank. Und da hab ich also Google zu Rate gezogen und die Leute von Google haben mir folgendes verraten. Der Herr Sarrazin ist vor ein paar Tagen in ein türkisches Lokal in Kreuzberg gegangen, ein ZDF-Team im Tross. Ist ja lobenswert, wollte herausfinden, wie das wirklich ist mit denen, über die er ein ganzes Buch geschrieben hat. Hat also Feldforschung betrieben, gewissermaßen in freier Wildbahn. Und da ist er dann aus diesem Restaurant rausgeworfen worden. Kein Döner für Sarrazin! „Eigentlich sind Türken sehr gastfreundlich, aber ich glaube, ich kann sie nicht bedienen“, hat der Lokalmanager gesagt. Daraufhin musste Herr Sarrazin raustraben und die Gäste haben gejubelt und gegröhlt. Und Sarrazin war echt erschüttert, dass ein, ja, so hat er das selbst formuliert, „verdienter ehemaliger Senator, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen“, dass der einfach aus einem Lokal in Deutschland so rausgeworfen wird, als wäre er ein Betrunkener mit Lokalverbot. 
Und da hab ich mich schon gefragt, ja, klar, natürlich war das als gezielte Provokation angelegt, aber vielleicht war der Herr Sarrazin wirklich ein klein wenig überrascht, denn ich unterstelle bei solchen Leuten ja neben Böswilligkeit auch immer ein hohes Maß an Realitätsverlust. Und das muss man sich mal metaphorisch vorstellen: Sie pinkeln Ihrem Nachbarn an die Tür. Sie schreiben ein Buch, in dem steht, ihr Nachbar ist dumm, völlig nutzlos, und es ist eine Tragödie, dass ihr Nachbar so viele Kinder kriegt, weil da werden nur viele kleine dumme nutzlose Nachbarn draus, „Kopftuchmädchen“, und dann klopfen sie bei ihrem Nachbarn an und sagen, hallo, ich wollt mal vorbeischauen und mit ihnen Abendbrot essen, was gibt’s denn Gutes? Und dann wirft sie ihr Nachbar raus und sie wundern sich, warum der so ein unfreundlicher Kerl ist. 
Ich mein, da würde man doch bei jedem normalen Menschen sagen: Geht’s noch? Brauchen Sie ärztliche Hilfe?
Als die Sarrazin-Debatte im vergangenen Jahr an ihrem Höhepunkt war, da war ich gerade in Frankfurt, und da bin ich zum Zeitungskiosk gegangen, und da bin ich fast umgefallen vor Lachen, als ich da die Bild-Zeitung liegen sah. „Bild kämpft für die Meinungsfreiheit“, stand da in dicken Lettern und dann noch dicker, fetter, größer: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Und dann all die Sätze, die man doch wohl noch sagen wird dürfen. 
Das wird man doch endlich wieder sagen dürfen. Dass die nicht zu uns passen. Dass aus denen nichts wird, weil die zu dumm sind. Halten wir unser Ohr mal an diesen Echo-Raum, aus dem heraus Sarrazin zugejubelt wird. Dieser Echo-Raum, in dem Muslime Hinternhochbeter und Schafficker genannt werden, diese gute Gesellschaft, in der man sich vor Geifer nicht halten kann, diese „Endlich dass es mal jemand laut ausspricht“-Ranküne-Gesellschaft. Sie sind ja nicht zu überhören, die da mit überschlagende Stimme schreien: Raus mit denen! Mit denen, die da auf unsere Kosten … die da unsere Mädels in der Disco … die sich gar nicht integrieren wollen … Lest hinein in die Postings unter die Artikel, seht Euch diese Niedertracht an und die Bosheit und die feixende Freude, dass man andere Menschen verachten darf. Diese giftige Lust, andere Menschen beschimpfen zu können. Die Bösmenschen und Hassposter, die in Sarrazin ihr Idol gefunden haben. 
Volksheld Sarrazin titelte der „Spiegel“. 
Woher kommt dieser Hass, diese Freude, dass man „ES“ jetzt endlich sagen darf, dass man es rauslassen darf, dass man es DENEN jetzt einmal sagen darf? Dass es dann gleich lossprudelt? Keiner komme mir mit den realen Problemen von Migration und Zuwanderung, die gibt es, über die wird noch zu sprechen sein, aber die sind dafür keine hinreichende Erklärung.
Und die realen Probleme mit der Migration, da müssen wir schon auch einmal eines sagen. Ja, da ballen sich Probleme in einigen städtischen Zonen. In Neukölln in Berlin, in Wien-Favoriten, wo türkische Jungs in eine Schleife von Schulproblemen, Schulabbruch, Arbeitsmarktproblemen, dem Aufwachsen in stigmatisierten Vierteln gefangen sind und sich auch selbst fangen. 
In den schlimmsten Fällen – in Berlin und Frankfurt etwa – heißt das, dass 30 Prozent nur mit Hauptschulabschluss oder ohne jeden Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt gespuckt werden. Oder eben gerade nicht auf den Arbeitsmarkt. Und im Durchschnitt, auf unsere Gesellschaften verteilt, sind das zwanzig Prozent. 
Und dass man in Berlin unter den Jungen Türken 36 Prozent Schulabbrecher vor dem 18. Lebensjahr hat, das liegt halt NUR an diesen Türken. Und nicht an einem Schulsystem, das die systematisch benachteiligt. Hmmm, aber wie erklärt man sich dann, dass in Schweden die Zahl bei neun Prozent liegt? 
Und, von den achtzig Prozent anderen, die keine Probleme machen, die vielleicht auch Probleme haben – weil sie nicht in bildungsnahen Mittelstands- oder Bürgerfamilien aufwachsen -, die sich anstrengen und durchbeißen, die den Sprung aufs Gymn
asium schaffen, obwohl der Lehrer in der Grundschule ihnen sagt, na, das wird nichts mit dir, aber macht nichts, wir brauchen ja auch Arbeiter in Deutschland, und die das trotzdem schaffen, und die dann den Gymnasialabschluss in der Tasche haben und dann auch noch ein Studium beginnen. Oder einen ordentlichen Job nachgehen. Von dieser überwiegenden Mehrheit redet niemand. Und die in etwa so ein Leben führen wie ich – Straßengangs kennen sie nur aus dem Fernsehen, aus den stigmatisierten Wohnviertel ziehen sie weg, sobald sie es sich leisten können und mit Religion haben sie soviel am Hut wie der durchschnittliche Taufscheinkatholik. 
Und wenn sie den Fernseher einschalten, dann hören sie, dass sie Moslems sind, die Probleme machen, weil das wird nichts mit den Moslems, die passen nicht zu uns, und den Aufstieg schaffen die auch nicht, weil bei den Türken hat Bildung halt kein Prestige. 
Hat sich irgendwer schon einmal gefragt, wie das bei denen, bei der großen Mehrheit der Deutsch-Türken ankommt? 
Die spielen gar keine Rolle in unseren hysterischen Debatten. Klar, diese „integrierten Ausländer“ fallen ja auch nicht auf, die sind unsichtbar. Die bewegen sich ja genauso wie Ihr und ich, die reden genauso, die grüßen genauso höflich, vielleicht sogar höflicher. Die merkt man gar nicht. 
Aber ich sag Euch etwas: Die erleben all diese aggressiven Debatten als Zurückweisung. Diese Diskurse, an denen alles falsch ist, kerkern die jeden Tag aufs Neue ein in ihrem Fremdsein, in ihrem Muslimsein. 
Aber man wird das doch alles noch sagen dürfen, sagt die „Bild“. Aber man wird ja noch rechnen dürfen, sagt Herr Sarrazin. Naja, aber wenn man so rechnet, wie der Herr Sarrazin, dann geht das „Moslemproblem“ eh ganz schnell weg. Ist doch logisch: In der ersten Generation kriegen die sechs Kinder. In der zweiten Generation drei Kinder. Ergo: In der dritten Generation null Kinder. Super. Keine Kickbox-Buben mehr im Park. Eine ganz neue Mathematik hat das der Satire-Spiegel genannt: Die Implausibilitätsmathematik. 
Und dann noch hinzugefügt: Historischen Rückwärtsberechnungen zufolge haben die muslimischen Sarazenen im Mittelalter planmäßig nur ihre debilsten Volksgenossen ins Abendland geschickt, um dort immer dümmer werdende Nachfahren zu verbreiten, welche man heute noch an ihren Familiennamen erkennen könne. 
Alles ist falsch an diesen Debatten, die keine Probleme lösen, sondern Probleme, die es gibt, nur verschärfen. 
Und dabei bin ich keineswegs der Meinung, dass Migration keine Probleme schafft, dass sie eigentlich ein schönes, buntes Multikultifest ist, und nur diese Debatten Probleme schaffen, dass also ohne die Rassisten alles eitel Wonne und wunderbar bunt wäre. Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Und ich hoffe, dass ich Euch damit jetzt nicht abstoße, wenn ich Euch einlade, über diese Dinge mal etwas anders nachzudenken. Es ist eine Falle, wenn wir uns zu so einer Art schwarz-weiß-Denken hinreißen ließen und sagen würden, die eigentlichen, die einzigen Probleme haben wir mit den Rassisten, ohne die wäre alles prima und pippifein. 
Nein, Migration schafft immer Probleme. Lassen Sie uns einmal nüchtern, ohne die Hysterie die Xenophoben, aber auch ohne multikulturelle Illusionen, einfach die Realität betrachten. Was passiert bei Migration, bei Massenmigration? 
Zunächst ist Migration auch auf Seiten der Migranten ein schmerzhafter Prozess, ein Prozess der Entwurzelung. Natürlich, es gibt immer Menschen, die haben soviel Energie und auch kulturelle Ressourcen, aus einer Veränderung ihrer Lebenssituation das Beste für sich zu machen. Aber für viele ist eben Migration immer auch eine Geschichte des Scheiterns, sie geht einher damit, dass man in ein Umfeld gerät, in dem man sich nicht so gut auskennt, wo man nicht versteht, wie die Dinge funktionieren. Wenn man in ungewohnte Umgebungen gerät, gibt es so etwas wie alltäglichen Stress. In der Realität sind Migranten natürlich auch die sozial Unterprivilegiertesten in unserer Gesellschaft. Sie waren oft auch in den Gesellschaften, aus denen sie kommen, die eher Unterprivilegierten. Es gibt ja im Grunde zwei Muster der Migration: Dass in sehr armen Gesellschaften die eher Adapitionsfähigsten, Erfolgreichsten migrieren – weil überhaupt nur sie sich vorstellen können, sich auf eine zwei-, dreitausend Kilometer lange Reise zu machen. Diejenigen, die in diesen sehr armen Gesellschaften auf den unteren Sprossen der Hierarchie sind, die in irgendwelchen Steppendörfern Ziegen hüten und die gerade einmal wissen, dass es da noch ein anderes Dorf einen Tagesmarsch entfernt gibt, die kommen ja nicht nach Deutschland. Es sind in diesen Gesellschaften eher die Privilegiertesten, die es hierher schaffen. 
In den relativ reicheren der armen Gesellschaften ist es umgekehrt. Da gibt es für die eher Privilegierten Möglichkeiten, sie leben in der Hauptstadt, sie haben dort Chancen. In diesen Gesellschaften haben die Unterprivilegierten wenig Chancen, aber sie glauben, sie hätten sie in reicheren Gesellschaften. Und wenn sie dann hier her kommen haben sie verschiedene Schwierigkeiten der kulturellen Adaption, die aber notwendig ist, hier ein gutes Leben zu führen. 
Und diese Schwierigkeiten führen zu Frustrationen. Völlig klar, ist so, hat Folgen, können wir nüchtern analysieren. 
Und was passiert hier dann in der Praxis? 
Sie ziehen in Wohnviertel, die selbst unterprivilegierte Wohnviertel sind. Weil hier die Mieten billig sind, weil da schon andere leben, die ihre Sprache sprechen, weil sie hier eine Art von Infrastruktur vorfinden, von der sie wissen, wie die funktioniert, was ihnen das Leben, jedenfalls aus ihrer Sicht, erleichtert. Und das ist ja auch wahr, dass ihnen das das Leben erleichtert, aber leider halt nur auf kurze Sicht, in langer Sicht erschwert ihnen das ihr Leben, weil die Gefahr besteht, dass sie in einen eigenen Mikrokosmos geraten, aus dem man dann schwer herauskommt, was gerade die Möglichkeiten einschränkt, die Chancen, die man grundsätzlich hätte, wahrzunehmen. 
Also, Migration ist unter den Bedingungen von Masseneinwanderung natürlich auch für die Migranten nicht immer eine schöne Sache. 
Und jetzt fragen wir uns, was das mit Gesellschaften macht, IN DIE Migration stattfindet. Nun gibt es in diesen Gesellschaften selbst soziale Probleme. Es gibt auch in diesen Gesellschaften Unterprivilegierte, und das sind die, die in diesen unterprivilegierten Wohnvierteln leben, in denen im Zuge von Massenmigration die Migranten ziehen. In welcher Stimmung sind die Menschen in diesen Vierteln, bevor die Migranten kommen? Na, die sind schon da nicht in der besten Stimmung. Oft sind das jene Viertel, die wir früher die Arbeiterhochburgen nannten. Und das mit der Unterprivilegiertheit ist ja in der Geschichte und der geschichtlichen Realität ein etwas unscharfer Begriff. Ja, in diesen Vierteln haben vor hundert oder fünfzig Jahren die Arbeiter gelebt. Unter denen gab es aber auch solche und solche. Es gab die Arbeiter, die sehr prägend waren für diese sozialdemokratische Facharbeiterkultur. Aufstiegsorientiert, für sie war Bildung wichtig. Sie haben gesagt: Meine Kinder sollen es besser haben. Sie selbst haben sich vielleicht im zweiten Bildungsweg hochgearbeitet. Da ging es lange Zeit nur ein, zwei Treppen auf der Stufe nach oben. Aber das waren die Leute, die das soziale Leben strukturiert haben in diesen Vierteln. Warum sage ich, dass der Begriff „Unterprivilegiertheit“ unscharf ist? Weil wir eben begreifen müssen, dass es nicht nur die Reichen, die Privilegierten, und dann die „Schwachen“ gab, sondern dass es auch immer welche
gab, die man als die „Starken der Schwachen“ bezeichnen muss. Und deren Kinder sind im Zuge der Bildungsexplosion der sechziger, siebziger Jahre aufgestiegen, sie sind weggezogen aus diesen Vierteln und zurück geblieben sind die, die es nicht geschafft haben. Die haben auch das Gefühl gehabt, dass sie es nicht geschafft haben. Dass sie zurückbleiben. Es ist kein schönes Gefühl, zurück zu bleiben. 
Man muss das verstehen: An ihrer unterprivilegierten Position hat sich vielleicht gar nichts verändert. Ja, vielleicht hat sich auch etwas verändert aufgrund des sozialen Wandels. Früher konnten sie als ungelernte Arbeiter immer noch genug verdienen, um ein Leben in Würde zu führen. Heute sind diese Jobs rar geworden. Aber auch wenn sich, äußerlich, an ihrer unterprivilegierten Position nichts verändert hat, hat sich doch mental etwas für sie verändert. Sie haben gespürt, dass sie Verlierer eines Prozesses sind. Und dass es da Gewinner gibt. Und nicht nur die Gewinner, die sie eh nicht kennen, den Bankdirektor, den Gymnasialdirektor, die fetzigen Bobos, die was mit Medien machen oder mit Internet, also die ganze übliche Oberschicht, sondern es gab auch unter Nachbarn Gewinner. Der Nachbarjunge, mit dem sie noch Fußball gespielt haben, der hat es geschafft, der kam aufs Gymnasium, wurde Angestellter, oder Techniker oder ging später sogar auf die Universität, und sie sind zurückgeblieben. In einer Welt der Schwachen, in der es plötzlich auch die Starken der Schwachen nicht mehr gab. 
Es sind diese Prozesse, die zu dem führen, was man den Abstieg von Wohnquartieren nennt. Und dann kamen die Ausländer. Die waren nicht der Grund für diesen Abstieg, aber ihr Ankommen hat für die, die hier wohnten, diesen Abstieg letztendlich dokumentiert. 
Und da kann Rassismus eine Rolle spielen, aber er muss es auch nicht. Es ist da schon verständlich, dass dann Bad Emotions entstehen, und Spannungen, und es hat keinen Sinn, davor die Augen zu schließen. 
Migration ist oft ein schmerzhafter Prozess. Für die Migranten, die plötzlich in einer fremden Welt leben. Und für die Alteingesessenen, deren gewohnte Welt sich verändert, auf eine Weise, die sie nicht immer verstehen, aber von der sie wissen, dass das für sie keine Veränderung zum Besseren ist. 
Und wenn wir denen sagen: Ist doch schön, die Welt ist bunt!
Dann sagen die zu uns: Redet’s ihr schön, ihr Studierten, oder ihr Mittelstandskinder, ihr kennt die Probleme ja nicht, die wir haben. 
Und das ist schon eine Realität, die wir nicht verkleistern sollen indem wir sie auf eine simple Dichotomie „Ausländerfreundlich“ versus „Rassismus“ reduzieren. 
Lasst mich zum Abschluss ein paar Andeutungen darüber machen, was aus den verschiedenen, scheinbar disparaten Fäden folgt, die ich heute aufgespannt habe. 
Also, es gibt tatsächlich Probleme, die mit Deklassierung zu tun haben, und auch mit der rasanten Veränderung der Lebenswelt von Menschen, und rasante Veränderung der Lebenswelt kann etwas sein, was Menschen überfordert. Massenmigration ist ein Moment rasanter Veränderung, die technologischen Veränderungen, die Veränderung des Arbeitslebens, alle Aspekte von Globalisierung, gehören da auch dazu. Wieviel hat sich für die Menschen in den vergangenen zwanzig Jahren verändert, und es ist durchaus verständlich, dass manche Menschen diesen beschleunigten Takt an Veränderung bedrohlich empfinden, oder verständlich ist zu wertend, sagen wir es nüchterner, analytischer: es ist ein gesellschaftlicher Fakt. Gleichzeitig gehört zur rasanten sozialen Metamorphose unserer Gesellschaften dazu, dass wir gar nicht mehr wissen, was „Gesellschaft“ überhaupt heißt, was „Gemeinwesen“ überhaupt heißt. Heißt das, dass die allerunterschiedlichsten Menschen zufällig auf einem Territorium leben, aber eigentlich nebeneinander herleben, nichts mehr miteinander zu tun haben? Bedeutet dieser Wandel dann nicht auch, dass wir, bei allen positiven Aspekten, die er hat, dass wir uns dann nicht mehr als Ähnliche erleben? Aber was verbindet Menschen, die unterschiedlich sind, selbst wenn sie im besten Falle diese Unterschiedlichkeit respektieren? Und angenommen, es verbindet sie eigentlich nichts, warum sollten sie sich gemeinsam für irgendetwas einsetzen, also, warum sollte mich die Deklassierung von anderen – den einheimischen Unterprivilegierten oder den zugewanderten Unterprivilegierten – überhaupt etwas angehen? Ich könnte ja auch sagen, das hat ja im Grunde mit mir nichts zu tun, interessiert mich nicht!
Ich glaube deshalb, dass wir schon so etwas wie ein positives Ziel brauchen, eine Idee, wie wir uns die Gesellschaft, in der wir in zehn, zwanzig Jahren leben wollen, vorstellen. Integration muss weder Assimiliation noch Anpassung heißen, ja, es kann es gar nicht heißen, weil unsere Gesellschaften schon so different geworden sind, dass ja überhaupt nicht mehr gesagt werden kann, wer sich an wen anpassen soll. Es braucht also eine Vorstellung eines „Wir“, die die Differenz einschließt, das Bild einer „Guten Gesellschaft“ für alle Bürger, die hier leben. Ein Gemeinsames, das Unterschiede und Individualität akzeptiert. Aber es muss schon ein Gefühl des Gemeinsamen geben, weil – noch einmal – ja sonst überhaupt nicht klar ist, warum mich die Deklassiertheit eines anderen, oder dessen Probleme etwas angehen, warum es, wenn es denn Probleme gibt, mich etwas angeht, dass diese Probleme aus der Welt geschafft werden. 
Ein Leben, frei, in Würde, so dass man seinen eigenen Lebensvollzug als spannend oder inspirierend sieht, das stelle ich mir als Ziel progressiver Politik vor, oder anders gesagt: dass möglichst alle noch mehr aus ihrem Leben machen können. Wer in Deklassierung lebt, der startet mit Nachteilen ins Leben, so dass schon bei fünf-, sechsjährigen klar ist, sie werden weniger Chancen haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, ja, wo eigentlich klar ist, sie starten als geborene Verlierer ins Leben. Aber es braucht eine Idee eines Gemeinwesens, dass man das überhaupt als Problem bearbeiten kann: In Österreich, und ich weiß, dass das in Deutschland sehr ähnlich ist, schaffen gerade einmal 36 Prozent der Kinder aus Einwanderfamilien einen Schulabschluss, der dem Niveau einer AHS oder sogar Universitätsabschlusses entspricht. In Schweden, wo ungleich mehr in Bildungsgerechtigkeit investiert wird, liegt der Wert bei 60 Prozent und unterscheidet sich damit nicht mehr signifikant von dem ihrer Generationsgenossen unter „autochtonen“ Schweden. 
Aber warum sage ich eigentlich nicht, das ist doch die entscheidende Frage, warum sage ich mir nicht, wenn ich so ein Selbstgespräch über diese Dinge starte: Warum sage ich nicht: Ist mir doch egal, was kümmert mich der Türkenbub? Ich hab mit dem doch nicht mehr gemein als mit der alten Oma mit der Dauerwelle die gegen Moscheen kämpft. Solange es mir gut geht, solange meine Kinder eine gute Schulbildung haben, muss mich das Geschick des Türkenbuben doch genauso wenig kümmern, wie das Geschick der Oma, der die Moschee am Freitag zu laut ist. 
Ich meine, ich spitze das jetzt absichtlich zu, aber wenn wir Gesellschaft nur als zufälliges, atomisiertes Zusammenleben differenter Individuen begreifen, dann lässt sich doch gar nicht argumentieren, warum man sich für irgendetwas Positives einsetzen sollte. 
Integration, und damit komme ich zum Schluss, heißt nicht Anpassung. Es heißt nicht, dass sich ein bisher Ausgeschlossenes, Exkludiertes, in etwas bereits Bestehendes integriert, und dieses Bestehende durch die Integration unverändert bleibt. Das ist die falsche Vorstellung der Sarrazins, die im herrischen „Integriert Euch“ zum Ausdruck kommt. Diversity wiederum kann aber au
ch nicht heißen, dass lauter Individuen oder Bevölkerungsgruppen unverbunden und atomisiert nebeneinander herleben. Integration, positiv verstanden, kann und sollte also heißen, dass nicht bloß eine oder mehrere Gruppen in einen schon bestehenden Zusammenhang integriert werden, sondern dass dieser Zusammenhang im Prozess der Integration erst hergestellt wird. Dass etwas entsteht, was weder vorgängig schon da war, noch durch die bloße Vielheit ausreichend charakterisiert ist. Etwas, zu dem die Bürger sagen können: „Wir“. Das sind „Wir“. Das ist „unsere Gesellschaft“. Zu der gehören „wir“ dazu und „die“ und „die“ und „die“ gehören auch dazu. Im Sinne des schönen Titels jenes Buches, das als Antwort an Sarrazin geschrieben wurde. 
Der lautet: Deutschland erfindet sich neu. 
Ich danke Euch!

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