Eine Krise der Gefühle

Zwischen heller Panik und der Sehnsucht nach dem großen Knall. Die Finanz- und Eurokrise als Achterbahn der Empfindungen. Der Freitag, 15. Mai 2012
Seitdem vor vier Jahren mit dem Kollaps von Lehman-Brothers die globale Finanzkrise „ausgebrochen“ ist, fahren wir auf einer Achterbahn der Emotionen. Schon das Wort „ausgebrochen“ ist ja verräterisch, dieses Wort, das wir normalerweise auf Vulkane münzen, deren Gewalt völlig unerwartet über uns hereinbricht und uns zu verschlucken droht. Nun, also, seitdem die Finanzkrise ausgebrochen ist, überschießen die Emotionen in alle Richtungen. Mal in Richtung Alarmismus, dass nun der „Gelduntergang“ (Der Spiegel) vor der Türe steht, mal wieder in Richtung Beschwichtigung, in Richtung eines unbegründeten Sicherheitsgefühls. Da ist dann zu hören: „Wenn die Bürger wüssten, wie es wirklich steht, würden sie richtig in Panik geraten.“
Mit dem Wahlausgang in Griechenland hängt nun scheinbar endgültig der Zusammenbruch der Eurozone über uns. Was passiert, wenn Griechenland in den ungeordneten Bankrott schlittert, die Banken des Landes kollabieren und andere Länder und das globale Finanzsystem untergehen? Leiden dann nur die Griechen? Oder ist dann unser aller Geld futsch? Kommt morgen keine Kohle mehr aus dem Geldautomaten? Und was machen wir dann? Basteln wir uns eine neue Währung? 
Viele Ängste sind rational aber sie sind in einem gewissen Sinne auch irrational – insofern sie sich auf Nichtwissen stützen, was die Aussichten erst recht bedrohlich macht. Die Bürger sehen sich einer Gefahr gegenüber, die sie nicht verstehen. Schlimmer noch: Sie haben den Eindruck, dass niemand die Gefahr wirklich versteht, selbst die sogenannten „Experten“ nicht, die uns normalerweise schon durch den Umstand beruhigen, dass sie offenbar an unser statt die Dinge wenigstens verstehen. Aber diesmal ist das anders. 
Die einen, die „hochseriösen Experten“, erklären uns, dass wir durch die Verabreichung schmerzhafter Medizin die Krise in den Griff bekommen. Durch rigide Haushaltspolitik und Austerität würden die Märkte beruhigt, sodass wir am Schlimmsten vorbeischrammen. Aber jeder sieht längst, dass Austerität nicht funktioniert. Die „Experten“ von der anderen Seite erklären, dass man sich aus Krisen nicht heraussparen, sondern nur herausinvestieren könne. Aber bis ins letzte kann das auch nicht überzeugen, denn woher soll das Geld für die notwendigen Investitionen denn kommen? Vermögenssteuern? Noch mehr Schulden? Aber wie, wenn die Märkte für Staatsanleihen Horrorzinsen verrechnen? Nun, direkte Staatsfinanzierung durch die Druckerpresse der Zentralbank, das wäre eine Möglichkeit. Ginge leicht, sagt man uns. Wir ahnen aber, mehr so instinktiv, dass alle Spielarten von Experten ihre schwarzen Flecken auf ihren Modellen haben, wir spüren ihre Unsicherheit, dass sie selbst nicht restlos überzeugt sind von dem, was sie vorschlagen. Wie könnten sie auch. 
Es ist die Zeit von Schlagworten. Ein beliebtes lautet: „Schulden kann man nicht mit Schulden bekämpfen.“ Klingt einleuchtend, aber ist es auch wahr? Es macht ja offensichtlich manchmal schon einen Unterschied, wer verschuldet ist. Und natürlich kann man Schulden mit Schulden bekämpfen. Wenn der Kreislauf der Schuldentilgung ungebrochen bleibt, dann haben wir kein Problem – erst wenn die Kette irgendwo reißt, dann haben wir ein großes Problem. Insofern könnte man beinahe umgekehrt sagen: Man kann Schulden nur mit Schulden bekämpfen, erst der Versuch, damit aufzuhören, reißt den Krater unter unseren Füßen auf. 
Unsicherheit, die sich auf Nichtwissen, auf Nichtverstehen gründet, ist auch die große Zeit des „Geheimwissens“. Leute treten auf, die uns erklären, sie haben die Formel erfunden. Sie umgeben sich mit der Aura derer, die uns jenes verborgene Wissen mitteilen, welches man uns vorenthalten wolle. Das Geldsystem mit seinem Zins und Zinseszins, es funktioniere nicht, es könne nicht funktionieren, weil es zu exponentionellem Wachstum von Vermögen und Schulden und daher notwendigerweise in einen Krach führen müsse. Und der komme bald, 2012 schon, spätestens 2013. Ganz sicher! Die Weisen wissen es, sie sind die Erleuchteten, die Hare Krishnas der Ökonomie, während alle anderen nur im Nebel herumstochern. Theorien wie diese grassieren derzeit, dagegen zu argumentieren ist sinnlos, denn wer dagegen argumentiert erweist sich allein deshalb schon als unaufgeklärter Büttel des „Geldsystems“, der sich gegen die Erkenntnis wehrt. 
Womöglich ist in unsere intellektuelle DNA auch so etwas wie eine Sehnsucht nach der Apokalypse eingeschrieben. Klar, wir haben eine Panik vor dem großen Pallawatsch, weil wir uns nicht ausmalen können, wie es nachher weiter geht. Aber wir haben, wenn Phasen von Unsicherheit und Instabilität nur lange genug dauern, auch so etwas wie die Sehnsucht nach dem finalen Knall: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Man hört das heutzutage in Griechenland oft: „Es kann ja ohnehin nicht mehr schlimmer kommen“. Dabei weiß natürlich jeder insgeheim: Natürlich kann es noch schlimmer kommen. Aber die chronische Hängepartie von Krise, Fast-Kollaps und nervenzerfetzenden Last-Minute-Rettungen, für die sind wir auf Dauer offenbar auch nicht gemacht. 
In diese Emotionen der Krise spielen auch moralische Empfindungen hinein. Wir erzählen uns die Krise nicht zuletzt als Moralfabel: Wer schlecht gewirtschaftet hat, der muss den Schmerz ertragen, der Schmerz ist die Sanktion für Fehlverhalten. Deshalb „müssen“ die Griechen eben jetzt leiden. Aber müssen sie wirklich? Wer hat etwas davon, wenn die Griechen „bestraft“ werden? Und wieso die Griechen, aber nicht die Banker von Goldman-Sachs? 
Wir sehen also: Fakten allein weisen uns keinen Ausweg. Und Emotionen können uns auf den Holzweg schicken. Es kann nicht schaden, ihnen mit etwas Misstrauen zu begegnen. 


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