American Diaries, Teil 4: Chicago, wo Obama immer noch der Darling ist

Obamas Wahlkampf wird aus Chicago orchestriert. Hier wird der Präsident mit seinen Anhängern feiern, wenn er gewinnt. Aber das große Volksfest, wie vor vier Jahren, ist diesmal nicht geplant. derstandard.at, 6. November 2012
Das „Hideout“ kann man leicht übersehen, im düsteren Niemandsland neben dem Highway, mitten im Industriegebiet im Nordenwesten von Chicago. Aber es ist einer von diesen hippen Clubs, die hier in Chicago auch nicht so sehr viel anders ticken als in Kreuzberg, Brooklyn oder sonst wo auf der Welt: ziemlich windschief steht das kleine Haus da in seiner Baufälligkeit, und drinnen gibt es diesen gewissen Grind-Faktor, ohne den ein Club, der auf sich hält, nicht auskommt. Der junge Bob Palos steht auf der Bühne, weil es Sonntags hier immer Standup-Comedy gibt und nicht, wie an den anderen Tagen, Singer-Songwriter, Jazz- oder Indiepop-Bands. „Ich bin ein Mexikaner“, sagt Bob. „Ja, Ihr glaubt mir nicht, aber ich bin ein Mexikaner. Und wie ich klein war, so sechs, da hab ich beim Frühstück meine Eltern gefragt: ‚Hey, Daddy, wann werde ich endlich weiß?‘ Ja, ich dachte, man wird irgendwann einmal weiß. Ich meine, alle Leute um mich rum waren weiß, ich dachte, das wird man irgendwann automatisch. Aber mittlerweile bin ich ja weiß. Ich mein, ich soll ein Mexikaner sein? Meine Großeltern, die waren Mexikaner, die kamen ohne einen Cent hierher und haben sich durchgeschlagen. Und meine Eltern, die sind Mexikaner, die arbeiteten fleißig um eine Familie zu ernähren und ein Haus zu kaufen. Aber ich? Ich rauche Marihuana. Und ich bin nach vier Semestern von der Kunsthochschule geflogen. Ich bin eindeutig weiß.“

Die Leute klopfen sich auf die Schenkel. Sie wissen, dass das, was die Amerikaner „race“ nennen, und ganz schlecht klingt, wenn man es ins Deutsche übersetzt („Rassenfrage“) mindestens so sehr mit lebenskulturellen und sozialen Aspekten zu tun hat wie mit Ethnizität und Hautfarbe. Und wenn man es nicht explizit weiß, dann hat man zumindest ein implizites Wissen darüber, dazu ist man hier ironisch und reflektiert genug. Und so ist es auch kein Wunder, oder ein bisschen ein Wunder ist es schon, weil dieser Tage solche explizite Parteinahme seltener ist als noch vor vier Jahren, aber abgesehen davon ist es eben kein Wunder, dass an der Vorderfront des „Hideout“ ein großes Obama-Poster hängt: dieses verfremdete Porträt in Rot-Blau-Weiß aus dem „Hope“- und „Change“-Wahlkampf, überdimensioniert, auf gut vier mal fünf Meter aufgeblasen. In seiner Heimatstadt ist Obama natürlich immer noch Everybodys Darling. 
Aber solche Zeichen sind rar in der Stadt, am Morgen dieses Wahltages. In der Randolph-Street, wo die Obama-Kampagne ihre Zentrale im Prudentia-Plaza-Hochhauskomplex aufgeschlagen hat, stehen ein paar europäische TV-Stationen vor der Tür, und versuchen verzweifelt ein paar Bilder einzufangen, die sie aber nicht kriegen. Mehr als ein Paar von den Professionals, mit ihren ID-Karten um den Hals und diesem Habitus lässiger Geschäftigkeit, der in diesen Kreisen üblich ist, kriegen sie nicht vor die Linse. 
Richtig gearbeitet wird ein paar Meilen weiter südlich, beim McCormick-Center, einem Veranstaltungszentrum von der Art der Wiener Stadthalle. Hier wird Barack Obama, so er denn gewinnt, seinen Wahlsieg feiern. Rein dürfen nur Journalisten und ausgewählte Freiwillige von Obamas Wahlkampagne. Die große Volksparty wie noch vor vier Jahren, als 250.000 im Grant Park den historischen Wahlsieg Obamas feierten, wird diesmal nicht steigen. Für die normalen Leute, die auch dabei sein wollen, baut CNN gerade noch hektisch eine riesige Public-Viewing-Location unter freiem Himmel auf, gleich neben der Halle. 
Es ist eine der Eigentümlichkeiten dieser und auch der jüngsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen, dass man vom Wahlkampf in weiten Teilen des Landes beinahe nichts mitbekommt. Klar, manchmal fährt einer mit einem „Obama 2012″-Aufkleber am Auto herum, gelegentlich begegnet einem auch ein Passant mit einem „Romney“-Sticker am Revers; klar auch, wenn man durch die TV-Programme zappt, sieht man all die Diskussionsshows mit den ewigen „Talking-Heads“, den Experten, die erklären, dass der oder jener jetzt die Nase vorn hat, und warum das ihrer Meinung so sei, und wenn man das Internet einschaltet, poppt die Werbung irgendeines „Super-PACs“ auf, also einer der vielen Stiftungen, die für einen der Kandidaten Werbung machen (oder für eine bestimmte Sache, die mit einem der Kandidaten verbunden ist). Aber abgesehen davon wird um die meisten Bürger nicht geworben. 
Der simple Grund dafür ist: 80 Prozent der Bundesstaaten gelten als „sichere Bank“. Wer in einem dieser Bundesstaaten lebt, weiß im Grunde, dass seine Stimme nicht zählt. Wer, beispielsweise, hier in Illinois lebt, weiß, es ist eigentlich egal, ob er zur Wahl geht oder für wen er oder sie stimmt, denn Obama gewinnt hier ohnehin. Wer in Texas lebt, weiß das auch, nur dass dort Mitt Romney mit Sicherheit gewinnt. 
Also, Wahlkampf gibt es nur in den paar ausgewählten Bundesstaaten, die umkämpft sind, in Ohio, in Wisconsin, in Florida, und in denen, wo der Favorit nicht als völlig unschlagbar gilt, wie etwa Nevada oder Arizona. Und in diesen Staaten wird die ganz große Materialsschlacht geschlagen. Hierher haben die Kampagnen-Planer ganze Heerscharen an Mitarbeitern eingeflogen, die Tag und Nacht die Bürger mit Wahlwerbung beschießen, an ihre Türen klopfen, sie mit Telefonanrufen bombardieren. Die Freude über so viel Zuneigung ist den Bürgern dieser Staaten schnell vergangen. „Erst wirkte es wie Liebe, aber jetzt fühlt es sich längst wie Stalking an“, formulierte das jüngst ein Reporter. Vor ein paar Tagen, berichtet ein amüsierter Bürger Ohios, habe Vizepräsident Joe Biden angerufen, und er habe schon mit ihm zu plaudern beginnen wollen, aber erst nach zehn Sekunden gemerkt, dass der Biden-Anruf vom Tonband kam. Es wird von unschönen Szenen berichtet, so soll eine ältere Obama-Wahlkämpferin von einem erbosten Wähler die Stiegen runter gestoßen worden sein. 
Die Dame blieb Gott sei Dank unverletzt. Ob das alles aber nicht eine sehr ungesunde Entwicklung für die amerikanische Demokratie ist, diese Frage hat gerade am Wochenende die „New York Times“ aufgeworfen. Während noch 1960 John F. Kennedy und Richard Nixon in allen 50 Bundesstaaten um Stimmen geworben haben, schauen die Rivalen diesmal gerade einmal in 10 Staaten vorbei – in denen aber beinahe täglich. Für das Gros der Amerikaner entsteht so der Eindruck, dass ihre Stimme im Grunde ohnehin nichts zählt – und für eine ganz kleine Minderheit, dass sie letztendlich den Präsidenten bestimmen. 
Und das ist nicht nur ein Eindruck. In Ohio können ein paar hundert Stimmen darüber entscheiden, wer die 18 Repräsentanten des „Electoral College“ auf seiner Seite, und damit womöglich die Präsidentschaft gewonnen hat. 
Weil das so ist, werden längst raffinierteste Marketingtechniken aufgeboten. Seit Jahren schon sammeln die großen Parteien alle verfügbaren Daten aller Bürger: Mit welcher Partei oder Weltanschauung sie sympathisieren, Alter, Konsumverhalten, ob sie Kinder haben oder keine, welche Bücher sie lesen, mit wem sie auf Facebook befreundet sind. Teilweise werden Daten von dafür spezialisierten Unternehmen zugekauft. Über manche Wähler existieren über 500 Informationsdetails, sodass die Parteien über diese Wähler so gut Bescheid wissen, wie der Amazon-Roboter über mich, der bekanntlich besser weiß, welche Bücher mir gefallen, als ich selber. Auf Basis dieser Informationen werden die Bürger dann direkt kontaktiert, und zwar die, von denen man annimmt, wie wären unentschieden, um sie für die eine Seite zu gewinnen, und die eigenen Parteianhänger, um sie dazu zu drängen, nur ja zur Wahl zu gehen. „Microtargetting“, heißt diese Campagnenpraxis. Die Obama-Leute haben sogar eine eigene App entwickelt, die, mit Hilfe von Google-Maps all diese Daten für die Smartphones der Wahlhelfer synchronisiert, damit die unterwegs gucken können, ob sich nicht in direkter Umgebung ein Unentschlossener befindet, bei dem man schnell noch auf einen Plausch vorbei schauen kann. Denn wer weiß, vielleicht ist es ja gerade diese eine Wählerstimme, die darüber entscheidet, wer in den nächsten vier Jahren Präsident ist.
Dieser „Mikro-Wahlkampf“ (oder „Bodenkrieg“, wie er schon genannt wird), wird wohl letztlich darüber entscheiden, wer heute Abend die Nase vorne hat. In den Umfragen liegt Barack Obama stabil voran, und all die Spezialisten und Erbsenzähler, die längst alle Varianten durchrechnen („wenn X jenen Staat gewinnt, und Y jenen, wer hat dann den besten Weg zum Sieg, und wie sieht es aus, wenn Staat Z an jenen fällt…?“) sind unisono der Meinung, dass Obama die meisten Trümpfe auf seiner Seite hat. Dennoch, die Kandidaten liegen in den wichtigsten Staaten eng genug beieinander, dass natürlich immer noch alles möglich ist. 
Und immer wieder bringen die Umfrageinstitute, für die diese letzten Vorwahltage natürlich das sind, was der Weihnachtseinkauf für den Handel ist, neue, interessante Details ans Licht. Meine Lieblingsgrafik von gestern war die, die die „Enthusiasmus-Schere“ verdeutlicht. 51 Prozent der Republikaner sagen, sie seien „extrem enthusiastisch“ bei der Wahl ihres Kandidaten, während die Demokraten es gerade nur auf 44 Prozent Enthusiasmus bringen. Die Zahlen haben eine innere Logik: Während die Konse
rvativen mit viel Elan zur Wahl gehen (weil sie Barack Obama so richtig hassen und um jeden Preis der Welt wegkriegen wollen), sind die Mitte-Links-Wähler nicht so begeistert – viele wählen einfach Obama mit diesem „er-ist-das-kleinere-Übel“-Gefühl, wie man das von ihren – buchstäblichen – „Wahl-Verwandten“ auch aus Europa kennt. Gewiss hat der geschwundene Enthusiasmus den Obama-Leuten das Wahlkämpfen nicht wirklich erleichtert. Aber über den wahrscheinlichen Wahlausgang sagt das noch nicht viel aus. 
Im übrigen, so interessant diese Zahlen auch sein mögen, die Schwankungssicherheit des Ergebnisses beträgt +/- 5 Prozent. 
Es könnte also alles auch andersrum sein. 
Vielleicht aber hat der Enthusiasmus nur seine Betriebsform geändert. „Es war ekstatisch. Es war ein großartiger Moment“, sagt Tess über die Wahlparty vor vier Jahren, als Obama gewann und alle im Grant Park feierten. Jetzt steht sie am Tresen der Bottom Longe, einer dieser Hipster-Music-Halls im Südwesten von Downtown Chicago. „Ich hätte gerne, dass sich 2008 wiederholt. Aber natürlich ist das erste Mal immer am großartigsten“, sagt sie, und lacht dabei, als hätte sich schon häufiger etwas in ihrem Leben bis zur routinierten Langeweile wiederholt. 
Drinnen, im Konzertsaal, röhren gerade walisische Post-Punker ihre Songs. Übrigens, der Name der Band lautet: „The Future of the Left“. Aber das ist nur rein Zufall, dass die in der Nacht zum Wahltag in Chicago auftragen. 
Ach ja, und noch eins: Fast alle, nein, praktisch alle im Publikum waren weiß. Eine derartige ethnische Homogenität bekommt man in Europa bei vergleichbaren Events nicht mehr zu sehen.

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