Der unmögliche Kandidat

Glaubt man den Umfragen, hat Mitt Romney Chancen, Barack Obama zu schlagen. Am Kandidaten Romney kann das nicht liegen. Falter, 31.10. 2012
Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass Mitt Romney der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird. Und das alleine ist erstaunlich genug. 
Denn der 65jährige Mitt Romney ist, nüchtern betrachtet, ein völlig unmöglicher Kandidat. Er ist der Präsidentschaftkandidat einer Partei, die ihn eigentlich hasst. Die Republikanische Partei ist in den vergangenen Jahren zu einer ultrarechten Partei geworden, die sich praktisch in Geiselhaft von Extremisten befindet – der radikalen „Tea-Party-Bewegung“, und einer Parteibasis, die an die heilsamen Wirkungen des freien Marktes glaubt, die jeden Hauch von Liberalismus als Teufelszeug verdammt. „Der lupenreine Konservativismus, der von der Republikanischen Partei Besitz ergriffen hat, passt so überhaupt nicht zu Romney’s Persönlichkeit, zu seinem Charakter und seiner Geschichte, dass seine Kandidatur geradezu bizarr erscheint“, schreibt der Autor und Pulitzer-Preisträger Russel Baker in der jüngsten Ausgabe der „New York Review of Books“. 
Die Parteigänger der Republikaner haben ihn nur deshalb nominiert, weil von den anderen Kandidaten, die zur Auswahl standen, überhaupt niemand eine Chance gehabt hätte, gegen Obama zu gewinnen. Und weil sie wissen, dass die Mehrheit der Amerikaner nicht so rechts ist, dass ein „echter“ Konservativer gewinnen könnte. 

Der Kandidat wiederum hat sich, um diese konservative Parteibasis für sich gewinnen zu können, so weit verbogen, dass sich die Frage stellt, ob Mitt Romney überhaupt irgendwelche Prinzipien hat. Aber tatsächlich durchzieht diese Frage seine gesamte politische Karriere. Studiert man seine politische Biographie, dann scheint, je mehr man weiß, umso unerklärlicher, warum dieser Mann überhaupt jemals in die Politik gegangen ist. 
Romney kommt aus einem streng gläubigen mormonischen Elternhaus. Schon seine Urahnen waren fromme Anhänger dieser etwas bizarren Religion, die vor hundert Jahren noch die Polygamie hochhielt. Romneys Großeltern zogen sogar für ein paar Jahre nach Mexiko, um das Verbot der Vielweiberei zu umgehen. Erst in der Generation von Romneys Vater George kam die Familie im Mainstream Amerikas an, wie übrigens viele Mormonen: Man überwand die Selbstisolation, akzeptierte die Monogamie, pflegte seinen Glauben weitgehend im Privaten (oder eben in der mormonischen Parallelgesellschaft) und arbeitete ansonsten am gesellschaftlichen Aufstieg. Romneys Vater wurde Chef von General Motors, Gouverneur von Michigan und 1968 sogar kurzzeitig glückloser Präsidentschaftsanwärter der Republikaner, bevor er das Feld für Richard Nixon räumte. Die Familie war bigott und angepasst, aber relativ liberal: George Romney übte leise Kritik am Vietnamkrieg und setzte sich für die Bürgerrechte der Schwarzen ein. 
Die späten sechziger Jahre waren für Mitt Romney prägende Jahre, auch wenn er sie sehr viel anders durchlebte, als die meisten seiner Generation: Er ging als Mormonen-Missionar nach Frankreich und klopfte Tag für Tag an hunderte Türen, und sagte: „Guten Tag, wir sind junge Leute aus den USA und würden gerne mit Ihnen über Jesus reden.“ Er überlebte einen schweren Autounfall, kehrte nach 30 Monaten wieder nach Hause zurück und war unter den Mormonen eine große Nummer, weil er es mit seinem Trupp immerhin geschafft hat, rund 200 Franzosen pro Jahr zu missionieren. 
Er heiratete, studierte Jus, ging in die Geschäftswelt: Erst als Consulter, und schon damals mit dem weitsichtigen Überlegung, dass er als Unternehmensberater so viele Firmen von innen sehen würde, dass ihm das hinterher nur nützen würde, wenn er selbst einmal als Vorstandschef an der Spitze eines Unternehmens stünde. Später gründete er den Investmentfonds Bain Capital, einen jener Finanzinvestoren, die Unternehmen aggressiv aufkaufen, dann Personal rauswerfen, die Unternehmen zerschlagen, und die Einzelteile mit Gewinn verkaufen. Eine Geschäftsstrategie, die ihm viele hunderte Millionen Dollar an persönlichem Vermögen einbrachte, ihm aber jetzt im Wahlkampf erwartungsgemäß schadet. 
Es war in dieser Zeit, dass Romney seine ersten Fühler in Richtung einer eigenen politischen Karriere ausstreckte. Warum, ist eigentlich nicht so leicht erkennbar. Große politische Überzeugungen, für die er brannte, werden ihm nicht nachgesagt. Wahrscheinlich ist die Sache simpler: Es war ihm als Unternehmens-CEO wohl auf die Dauer zu langweilig. Und er kommt aus einer religiösen Minderheit, für die ein hohes Staatsamt schon alleine deshalb erstrebenswert ist, weil es als Ausweis gesellschaftlicher Anerkennung gilt.  1992 ließ er sich als „Unabhängiger“ registrieren, um bei den Vorwahlen der Demokraten mitstimmen zu können. 1993 wechselte er zu den Republikanern, um bei den Senatswahlen gegen den legendären Senator von Massachusetts, Ted Kennedy antreten zu können. Er verlor, präsentierte sich aber als Mann der Mitte mit Haltungen, die knapp an der Kante zum Linksliberalismus waren. 
Zehn Jahre später wurde er dann Gouverneur von Massachusetts, und auch hier blieb er bei seiner Linie: Er sei kein „Partei-Republikaner“, sondern ein „Moderater“, der in manchen Fragen auch „progressive Ansichten“ habe. 
Erst als er die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten anstrebte, wechselte Romney seine Ansichten. War er zuvor für das Recht auf Abtreibung, bezeichnete er sich nun als „Pro-Life“ (also als Abtreibungsgegner), hatte er in Massachusetts eine Gesundheitsreform durchgeführt, die dem späteren Obama-Plan ziemlich ähnlich sah, bekämpfte er nun jede Form eines allgemeinen, gesetzlichen Gesundheitssystems. Hatte er vorher einen „sozialen Touch“, beschimpfte er nun Minderleister und Sozialhilfeempfänger. Als Vizepräsidentschaftskandidaten hat er den harten Ultrarechten Paul Ryan nominiert.
All diese Frontbegradigungen machen Romney nicht nur deshalb zu einem absurden Kandidaten, weil er damit wie ein Opportunist wirkt, sondern weil es ihm verunmöglicht, seine Persönlichkeit ins Zentrum des Wahlkampfes zu stellen. Ist Romney ohnehin vom Charakter her eine eher blasse Erscheinung, kommt eben auch noch erschwerend hinzu, dass er gezwungen ist, wesentliche Teile seiner Biographie hinter einem Nebel zu verschleiern: seine politische Biographie als moderater, progressiver Republikaner, seine Verwurzelung in der Kirche der Mormonen (weil die eifernden Evangelikalen der Republikaner-Basis keine Freunde von Mormonen sind), und seine berufliche Biographie als Heuschrecken-Investor. Überspitzt formuliert: Seine Wahlkampagne zielt darauf ab, dass so wenig wie möglich über ihn bekannt wird. 
Dass jemand mit so vielen Handicaps überhaupt in die Nähe eines Wahlsieges kommen kann, hat somit einen simplen Grund: die Amerikaner sind enttäuscht von ihrem gegenwärtigen Präsidenten, oder genauer, sie sind angesichts der Wirtschaftsmisere und der hohen Arbeitslosigkeit in erheblichen Ausmaß bereit, jeden anderen als den Amtsinhaber zu wählen. 

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