Überleben im Marktdystopia

Verschuldet, zur Zahlung verpflichtet und gefangen im Wettbewerbsindividualismus: Was der zeitgenössische Kapitalismus mit den Menschen anstellt. Ein Beitrag für „Herbst“, den Diskurs-Katalog des „Steirischen Herbstes“ (hier gehts zum Gesamtkatalog) 

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Was die Wirtschaftswissenschaft das „Aggregat“ nennt, also die Gesamtheit der marktwirtschaftlichen Ökonomie, ist eine abstrakte Struktur, die scheinbar unpersönlich und wie auf Autopilot gestellt funktioniert. Die einzelnen Menschen erscheinen angesichts dieser abstrakten Maschine wie Anhängsel der großen Apparatur, aber doch ist diese Apparatur nichts anderes als ein soziales Verhältnis, das von Millionen von Impulsen von Millionen von Wirtschaftsakteuren etabliert und am Leben erhalten wird. Karl Marx nannte das ein Verhältnis von Verhältnissen, von Menschen geschaffen, das aber die Menschen unterjocht. Marx‘ Biograph Francis Wheen hat die Frage aufgeworfen, ob sich das Bild, das eine solche Darstellung evoziert, nicht der zu Marxens Zeiten populären „Frankenstein“-Geschichte von Mary Shelley verdankt, also der Geschichte über das Monster, das, von Menschenhand geschaffen, sich gegen ihren Schöpfer wendet. Die Menschen produzieren den Kapitalismus, aber am Ende montiert dieser sie um, formulierte Marx: „Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“. Nun spricht viel dafür, anders als Marx, nicht von „dem Kapitalismus“, sondern von verschiedenen Kapitalismen zu sprechen, von Varianten in Zeit und Raum, in Sinne von: Der Kapitalismus von gestern ist nicht mit dem von heute identisch, und der amerikanische, beispielsweise, nicht mit dem schwedischen. Die Theorie von den „Varieties of Capitalism“ macht sich für diese These stark, wird aber auch von dem Einspruch herausgefordert, dass es immer (oder besonders heute?) eine hegemoniale Variante des Kapitalismus gibt, die die anderen Varianten in ihr Fahrwasser zwingt. Darüber könnten wir jetzt lange diskutieren, es ist aber nicht einmal sonderlich notwendig, da wir uns leicht auf eines einigen können: Der Kapitalismus verändert sich. Und damit verändern sich auch die Effekte auf die Bürger. Karl Polanyi, der große Analytiker der Auswirkungen von Marktgesellschaften auf Lebenswelten fasste das mit klaren, einfachen Worten so zusammen: „Der Aufbau der Gesamtgesellschaft auf dem Grundsatz von Gewinn und Profit muss weitreichende Folgen in ihrer Auswirkung auf den Charakter des Menschen haben.“

Kurzum: Verhältnisse von Verhältnisse etablieren ein System, das von Menschen gemacht wird, aber auf diese Menschen bisweilen Wirkungen zeitigt, die im strengen Sinn „keiner will“ – wahrlich eine „Liaison Dangereuse“.
Das, was man etwas phrasenhaft die neoliberale Wende seit etwa den 1970er/1980er Jahren nennt, hat nun eine Reihe von Auswirkungen: Deregulierungen, Ausweitungen der Marktzonen, eine Reanimierung eines Laissez-Faire-Systems und vieles mehr. Zwei Charakteristika fallen aber besonders ins Auge, und sie sind speziell mit Deregulierungen des Finanzsektors verbunden: Ein Wachstum der Ungleichheiten und eine Ausweitung des Privatkredits. Colin Crouch hat in diesem Zusammenhang etwas ironisch von einem „privatisierten Keynesianismus“ gesprochen. Nicht mehr kreditgestützte staatliche Investitionen setzten Nachfrageimpulse zur Stimulierung ökonomischer Aktivität, sondern in wachsendem Maße private Konsum- und Investitionskredite. 
Ungleichheit und Kreditaufnahme sind auf vielfältige Weise verbunden, sie sind zwei Seiten einer Medaille und sie haben Effekte auf Lebenswelten und auf Identitäten von Individuen. Zunächst ist das Verhältnis ein simples: Wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit hat zunächst den Effekt, dass es in zunehmenden Maße zwei Gruppen von Menschen innerhalb einer Gesellschaft gibt: Menschen, die mehr Geld besitzen, als sie brauchen, und Menschen, die nichts besitzen und weniger einnehmen, als sie benötigen. Insofern sind Ungleichheit und Schuldenkrise miteinander verbunden: Die Überschüsse der einen wandern als Kredite zu den anderen, die diese Kredite plus Zinsen zurückzahlen, worauf die Ungleichheit noch zusätzlich wächst. Da Finanzvermögen notwendigerweise Schulden gegenüberstehen (die Finanzvermögen der einen sind ja die Zahlungsversprechen der anderen), zieht Konzentration von großen Vermögen logischerweise tendenzielle Überschuldung anderer Wirtschaftsakteure nach sich, wer also die Schulden reduzieren, aber von der Reduktion von Vermögen nichts hören will, ist daher unlauter oder dumm. Reiche und Arme (oder Reiche und weniger Wohlhabende) gehen ein Verhältnis ein, ein Gläubiger-Schuldner-Verhältnis. 
Bevor wir uns der Frage zuwenden, was dieses Schuldner-Sein mit den Menschen macht, sollten wir aber noch einen Augenblick einige Überlegungen anstellen, warum sich die Menschen verschulden. Nun könnte man es sich natürlich einfach machen, und sagen, sie tun das, weil sie sich aus ihren laufenden Einkommen lebensnotwendige Basisgüter nicht mehr finanzieren können, oder sie tun es, weil sie den Lebensstandard, den sie bereits erreicht hatten, ohne Verschuldung nicht mehr halten könnten. Ohne Zweifel sind das wichtige Ursachen. Aber wenn wir uns die wirkliche Welt ansehen, dann stellen wir natürlich sehr schnell fest, dass auch Arme nicht bloß Brot, Butter, eine warme Mahlzeit pro Tag finanzieren, sondern dass sie auch nach bescheidenem Wohlstand streben. Richard Wilkinson und Kate Picket haben das in ihrer großen Studie „Gleichheit ist Glück“ folgendermaßen beschrieben: „Man kennt die jungen Arbeitslosen, die viel Geld für ein neues Handy ausgeben, weil sie glauben, dass sie sonst keine Chance in ihren Kreisen haben – wusste doch schon Adam Smith, dass man sich in der Öffentlichkeit kreditwürdig zeigen muss und keinesfalls in den Geruch von Armut und Schande geraten darf.“ Diese Dinge nicht zu besitzen, ist also mit Beschämung verbunden, möglicherweise wäre es der soziale Tod. Schon George Orwell beobachtete in seinen großen Untersuchungen über die von Armut und Wirtschaftskrise gebeutelten Bergbauregionen Nordenglands, dass man überall gut angezogene Leute trifft, die möglicherweise sogar Hunger in Kauf nehmen, um auf ein paar Accessoirs sichtbaren Wohlstandes nicht verzichten zu müssen. „Sie senken ihre Ansprüche nicht unbedingt in dem Sinn, dass sie auf Luxusartikel verzichten… öfter ist es umgekehrt – und natürlicher, wenn man es sich recht überlegt. … Man hat vielleicht nur drei Halfpence in der Tasche, überhaupt keine Zukunftsaussichten und als Zuhause nur eine Ecke in einem undichten Schlafzimmer; aber man kann in seinen neuen Kleidern an der Straßenecke stehen und sich in einem privaten Tagtraum als Clark Gable oder Greta Garbo vorkommen, was einen für eine ganze Menge entschädigt.“
Orwell hielt es keineswegs für frivol, lieber beim Essen als bei der Mode zu sparen, sondern umgekehrt, beinahe als Ausdruck von Lebenswille: Wer in einer von Stil und Statuskonsum geprägten Gesellschaft den Willen aufgibt, mitzuhalten, der gibt sich gewissermaßen selbst auf, gibt den Selbstrespekt auf.  
Was Orwell in Reportagemanier beobachtete, wird mittlerweile auch von der Wirtschaftswissenschaft fundiert. Und die Forscher haben auch noch etwas anderes herausgefunden: Wenn die Ungleichheit wächst, wird diese Dynamik verstärkt. Ausgerechnet zwei Wirtschaftswissenschaftler der University of Chicago (also jener Forschungseinrichtung, an der der neoliberale Poster-Boy Milton Friedman und seine Gang vor einem halben Jahrhundert ihr Laissez-Faire-Sektenregime errichteten), beschrieben in einem Paper mit dem Titel „Trickle-Down-Consumtion“, wie Ungleichheit, Verschuldung und Konsum zusammenhängen. 
Die beiden Wissenschaftler haben unzählige Datensätze durchforstet und ein ökonomisches Modell entwickelt – die Ergebnisse ihrer Forschungen kann man so zusammen fassen: Wächst die Ungleichheit, dann gibt es einen „Trickle-Down-Effekt“. Aber nicht auf die Weise, wie das bisher die neoklassische Ökonomie angenommen hat, dass die wachsenden Vermögen nach unten „durchsickern“ und auch den Wohlstand der Ärmeren heben. Sondern die Konsumgewohnheiten der Oberschicht werden von der Mittelschicht übernommen, weil die mithalten will – obwohl sie es sich nicht mehr leisten kann. Trickle-Down-Consumption nennen das die ForscherInnen. Neben dem psychologischen Effekt („Wir müssen mit den Jones mithalten…“) gibt es dafür auch handfeste Gründe: Mieten steigen im Viertel, Restaurantpreise steigen usw., sodass man schon seine Konsumausgaben bei wachsender Ungleichheit erhöht, wenn man an seinen Konsumgewohnheiten gar nichts ändert. 
Das bedeutet aber, dass der Verschuldungsgrad von Mittel- und Unterschichtshaushalten sukzessive ansteigt, während die Vermögen der Oberschicht auch wachsen. Immer mehr Bürger agieren auf dünnem Eis. Gibt es dann einen schwachen konjunkturellen Einbruch, kann das schon reichen, um eine Welle von Privat- und auch Firmenbankrotten nach sich zu ziehen. „So führt wachsende Ungleichheit dazu, dass es am Ende allen schlechter geht“, resümiert die „Washington Post“ die Forschungsergebnisse. Kurzum: Je ungleicher eine Gesellschaft, umso instabiler ihr ökonomisches Fundament. Wachsende soziale Ungleichheit führt nicht nur zu höheren Vermögen, sondern auch zu höheren Schuldenständen, mehr Bankrotten und damit zu schlechteren ökonomischen Ergebnissen. 
Ökonomie hat mit Menschen und damit viel mit Psychologie zu tun, und die Reaktionen der Menschen wirken wieder auf die Ökonomie zurück. Wirtschaftlich Abgehängtsein heißt nicht nur materiell in angespannten Verhältnissen zu leben, sondern auch an Achtung zu verlieren, im Extremfall in einem Zustand der Respektlosigkeit gefangen zu sein. Die Selbstachtung besteht nicht lange, wenn einem die Achtung der anderen entzogen wird. Menschen versuchen diesen Zustand zu umgehen. Verschuldung ist eine der Möglichkeiten, vor allem dann, wenn einem die Kredite praktisch aufgedrängt werden. Mit wachsenden Ungleichheiten entsteht auch eine Upper-Class, die im Luxus schwelgt, und deren Konsumgewohnheiten zum allgemein erstrebenswerten Ziel werden. Je ungleicher eine Gesellschaft, und je mehr Reichtum mit Attributen wie „Leistung“, „es geschafft haben“, mit „Gewinner sein“, versehen wird, umso bedenkenloser kann der Luxus ausgestellt werden.
„Luxusfieber“ ist die Folge, und das ist keine belanglose Sache, sondern hat bedenkliche Folgen, sodass, nebenbei angemerkt, eine „Kritik des Luxus“ eine lohnenswerte Sache wäre. 
In einer Gesellschaft, die sich selbst, wie etwa die amerikanische und die kontinentaleuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit, als „nivellierte Mittelschichtsgesellschaft“ imaginiert, wird Luxus eher verborgen und selbst die Reichen wollen nicht als reich erscheinen. Die meisten Reichen versuchten, nach außen möglichst konventionell zu leben, um in Gesellschaften nicht negativ aufzufallen, die mit einem Mal von einem demokratischen, egalitären Geist erfüllt waren. „Bescheidenheit wird großgeschrieben“, formulierte das maßgebliche deutsche Magazin der Nachkriegszeit, der Spiegel, 1966 in einer Serie über „Die Reichen in Deutschland“. Staunend bemerkte das Magazin über eine Gesellschaft, die nichts so sehr bewundere wie den wirtschaftlichen Erfolg: „Wenn es überhaupt etwas gibt, was die deutschen Reichen gemeinsam fühlen, so ist es die Sorge, man könnte sie für reich halten.“
Das ist nun nicht mehr der Fall, und die Überbietungsdynamiken, die das auslöst, haben auch Auswirkungen auf die weniger Begüterten. Indem sie sich verschulden, um mitzuhalten, begeben sie sich in neue Formen der Abhängigkeit und sind fortan in noch größerem Maße gezwungen, mitzutun – und auch von chronischer Unsicherheit befallen. Verschuldung zwingt dazu, beinahe um jeden Preis seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Man wird dann mehr und härter arbeiten und auch miese Jobs annehmen, und man wird in Jobs verbleiben, in denen man unglücklich ist. Die Optionen im Leben werden weniger – zumindest die eine Option, nämlich den Job zu kündigen und es sich ein paar Monate mit weniger Geld gemütlich zu machen, ist dann definitiv aus dem Leben verschwunden. Den Job zu verlieren ist eine noch größere Katastrophe, als sie es sonst schon wäre. Jede größere, ungeplante Ausgabe führt zu Ratlosigkeit und Weinkrämpfen. Würde man diese Leute fragen, wovon sie denn gerne „frei“ wären, dann würden sie wohl als erstes spontan antworten: von Angst. Von der Angst, die damit verbunden ist, wenn man heute gerade noch mit Ach und Krach seinen Lebensunterhalt bestreiten, morgen aber womöglich schon die Miete nicht mehr bezahlen kann (auch die damit einhergehende Unmöglichkeit, Pläne für’s Leben zu machen oder eine Familie zu gründen). Konservative und Neoliberale würden dieser Angst selbst mit Hohn und Spott begegnen, ist sie für sie doch nur Ausweis einer „Sicherheitsmentalität“ (der berühmten „Besitzstandswahrer“), die das „Wunder der Freiheit“ verachtet. Aber diese Angst ist heute womöglich die größte Bedrohung für Freiheitsoptionen. Wer von Angst gepeinigt ist, wird weniger riskieren. 
Wenn die Art und Weise, wie eine Ökonomie arrangiert ist, Auswirkungen auf den Charakter der Menschen hat, und wachsende Ungleichheiten sowie die Ausweitung des Konsumkredits zwei wichtige Eigenschaften des gegenwärtigen Kapitalismus sind, so sind sie selbstverständlich nicht die einzigen. Denn diese beiden Dynamiken fügen sich ein in eine Gesellschaft, die durch wachsenden Individualismus gekennzeichnet ist und durch ideologische Erzählungen, die mit diesem verbunden sind. 
Der französische Sozialforscher Pierre Rosanvallon denkt in seinem Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“ von der irritierenden Beobachtung aus, dass in Umfragen die überwiegende Mehrheit der Bürger die gegenwärtig herrschenden Ungleichheiten als „zu groß“ bezeichnen, und grundsätzlich urteilen, dass es einfach nicht mehr fair zugeht. Gleichzeitig meinen aber gute zwei Drittel der Bürger, dass Einkommensungleichheiten unvermeidlich seien und eine überwältigende Mehrheit hält sie für akzeptabel, wenn sie eine Entlohnung für individuelle Leistungsunterschiede sind. „Die pauschale Ablehnung einer bestehenden Gesellschaftsform geht also einher mit einer gewissen Akzeptanz der Mechanismen, die sie hervorbringt.“
Auch wenn in Einzelfällen Bonizahlungen an irgendwelche Doofbanker als skandalös ungerechtfertigt angesehen werden, ist im großen und ganzen dennoch die Vorstellung intakt, die Reichen werden ihren Reichtum schon irgendwie verdient haben. Insbesondere die Erfolgreichen selbst bilden sich ein, ihr Erfolg sei Folge irgendwelcher exzeptionellen Leistungen ihrerseits. Sie haben sich für diese Auffassung die schöne Theorie von der Meritokratie zurecht gelegt, von der Helmut Dubiel elegant sagte, sie habe die leicht durchschaubare „ideologische Pointe, dass sie denen, die ohnehin das Privileg eines hohen Status und eines komfortablen Lebens besitzen, zusätzlich noch das Gefühl vermittelt, all das auch verdient zu haben“. Im Umkehrschluss haben die Unterprivilegierten nicht nur den Schaden, sondern auch den Spott: Sie müssen ja an ihrer Lage irgendwie selbst schuld sein und damit auch verdient haben. Es ist übrigens bemerkenswert, welch Karriere das Wort „Meritokratie“ als positive Formel machte, wurde sie ja als beißende Spottvokabel von dem britischen Schriftsteller Michael Young erfunden, der sich als Sozialist in einer bösen negativen Utopie gegen die Formel von der „Leistungsgerechtigkeit“ wandte. Er schrieb in seinen letzten Lebensjahren an Londons Premier Tony Blair, er möge das Wort Meritokratie bitte nicht verwenden, schließlich habe er, Young, den Begriff satirisch gedacht. 
Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass das Urteil, jeder sei für sein Glück selbst verantwortlich, an den Betroffenen einfach so abperlen würde, dass sie es als leicht durchschaubare ideologische Operationen der Privilegierten abtun. Sie sind in ihrem Selbstbild davon betroffen. Sie leben schließlich in einer Gesellschaft, die von Individualisierung, zunehmender Komplexität und Heterogenität der sozialen Welt gekennzeichnet ist. Vor hundert Jahren mag ein unterprivilegierter Taglöhner noch der Meinung gewesen sein, seine materielle Deklassiertheit sei Folge kollektiver Nachteile seiner Gesellschaftsklasse, doch der Durchschnittsbürger von heute wird zumindest einen erheblichen Teil der Verantwortung sich selbst zuschreiben. Individualisierung heißt auch: Jeder führt sein eigenes Leben und zieht dann die Bilanz, die man gemeinhin „Lebenslauf“ nennt. Und das ist ja auch keineswegs nur Ideologie: Wir alle kennen ja genügend Menschen, die bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen in sehr unterschiedlichem Ausmaß Erfolg haben. Ungleichheiten dieser Art werden oft ja gerade deshalb als besonders drückend empfunden, weil sie „auf Variablen individueller Lebensläufe verweisen“ (Rosanvallon). 
Aber diese Sachverhalte werden ideologisch überhöht, und diese Überhöhung wirkt wieder auf die Wirklichkeit – „die Sachverhalte“ – zurück. Der Soziologe Sighard Neckel hat dafür das schöne Wort vom „Wettbewerbsindividualismus“ geprägt, für den „Erfolg“ alles ist und automatisch einer „Leistung“ zugeschrieben wird. Geld und die Dinge, die man sich dafür (für andere sichtbar) kaufen kann, sind Medien, den Spielstand zu messen. Es muss nicht hinzugefügt werden, dass eine solche Ökonomisierung und Monetarisierung der personalen Identität, also dessen, was ich bin und sein will, gesellschaftliche Bande zerreißt und sozialen Stress ins Leben aller bringt, sogar in das der Gewinner, die nichts mehr fürchten, als auch zu Losern zu werden. „Die Selbstsucht ist unbequem, sogar für die Selbstsüchtigen“, schrieb, damals schon todkrank, Tony Judt. 
Mit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 ist das kapitalistische Arrangement, das auf Deregulierung, wachsender Ungleichheit, Kreditwachstum und Wettbewerbsindividualismus beruhte praktisch zusammen gebrochen. Einige Elemente des Arrangements sind dadurch unwiderbringlich perdu: Wirtschaftsstimulierung durch „privatisierten Keynesianismus“ ist kaum mehr möglich, wenn alle Wirtschaftssubjekt
e gleichzeitig – also private Haushalte, Unternehmen, Banken und Regierungen – „deleveragen“, wie das im Fachjargon heißt, also ihre Schulden abbauen wollen. Doch wesentliche Elemente des Arrangements bleiben unverändert. Die Regierungen haben die Vermögen der Vermögenden gerettet, aber diese lassen sich die Rettung ihrer Vermögen auch noch bezahlen – von den Unterprivilegierten. Die Staaten sind überschuldet, weil sie die Finanzinstitutionen (und damit die Vermögen der Vermögenden) gerettet haben. Die nötigen Gelder leihen ihnen die Vermögenden, die dafür auch noch Zinsen kassieren. Für die Zinsen kommen die normalen Steuerzahler auf (also auch die Bürger, deren Vermögen nicht gerettet wurden, weil sie keines besitzen), oder, indirekt, die von Transferzahlungen Abhängigen, denen man die Gelder kürzt. Mit der anhaltenden Stagnation (und, wie etwa in Südeuropa, Depression) sinken die Lebenschancen der normalen Leute, die sich aber erst recht angeherrscht sehen, durch Leistung und noch mehr persönliches Engagement in der verallgemeinerten Konkurrenz ihren Nebenmann oder ihre Nebenfrau wegzuboxen, und die, sofern ihnen das nicht gelingt, ihren Misserfolg zur Hälfte den Umständen und der Zeit, und zur anderen Hälfte ihrem offensichtlichen Unvermögen zum Erfolg zuschreiben. Das Metaphernpaar von „Erfolg durch Leistung“ und „Misserfolg durch Faulheit“ wird von den Individuen auf ganze Nationen ausgeweitet – Griechenlands Misere ist folgerichtig Resultat der Faulheit und Unsolidität der Griechen. 
Schon Grundschüler werden heute in dem Bewußtsein erzogen, extrem gut funktionieren zu müssen, um überhaupt eine Chance zu bekommen. Ohne erstklassige Bildungsbiographie, wird ihnen eingetrichtert, wird das nichts, und auch mit einer ist es extrem schwierig. Unnötig zu sagen, dass das permanente und frühe Stricken einer Berufs- und Bildungsbiographie natürlich ein Wissen und Kompetenzen meint, die Marktgängigkeit immer im Auge haben. Diffizile Selbsttechniken zur Ausbildung eines „funktionierenden“ Charakters werden gefordert, wenn sie auch durch nichts als  durch stetige Prekarität belohnt werden. Prekarität aber nicht in einer Lebenswelt, in der man schon einfach so provisorisch durchkommt mit einer Gabe zur Improvisation, sondern in einer, in der um Statuskonsum kein Weg herumführt (man muss Erfolg sichtbar machen, bevor man ihn noch hat), in der soziale Beziehungen monetarisiert sind und Lebensrisiken individualisiert werden, in der Wohnkosten astronomisch ansteigen usw. Kurzum: In der das alles zunehmend unleistbar wird. 
Die Pointe ist aber, dass Menschen keine Homo Oeconomicus sind, trotz aller neoliberaler Gehirnwäsche. Die Marktwirtschaft produziert Wohlstand, schöne Güter und Arbeitsplätze, die die Voraussetzung dafür sind, dass die Menschen in ihr etwas aus ihrem Leben machen können, doch muss sich eine Gesellschaft – das ist der Fluchtpunkt von Polanyis großer Analyse – davor schützen, nur ein „Anhängsel des Marktes“ zu sein. Polanyi: „Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt … zuließe, dann würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen.“ Und, so fügte er paradoxerweise hinzu, auch der Kapitalismus muss letztendlich „vor den verheerenden Auswirkungen eines selbstregulierenden Marktes geschützt werden.“
Denn die Menschen bewohnen keine Märkte, sondern Lebenswelten und soziale Beziehungen.
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