„Norbert und Saskia wer?“

Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskens: Ein linkes Rebellenduo ist plötzlich der Favorit für die SPD-Nachfolge. Das ist gut so. Aber dennoch sollte sich die Partei keiner Illusion auf Spontanheilung hingeben.

Die Zeit, Online, 29. 10. 2019

Wenn du im freien Fall bist, ist der schwer zu stoppen. Die SPD ist in so einem freien Fall: Bei der Bundestagswahl 2017 rasselte sie auf 20,5 Prozent, wankte dann doch in eine Große Koalition, nur um über Monate hinweg die Trümmerfrau Andrea Nahles so zu zermürben, dass die hinschmiss. Und das, obwohl nicht einmal eine Alternative zu ihr in Sicht war. Zwischenzeitlich halbierte sich die SPD in Bayern auf 9,7 Prozent und fing noch ein paar einstellige Landtagswahlergebnisse ein – wie in Sachsen und zuletzt in Thüringen -, und in Hannover schaffte es ihr Kandidat nicht einmal in die Stichwahl, obwohl die Sozialdemokraten die Stadt seit 1945 regierten. Das Hauptproblem ist, dass eigentlich niemand mehr so recht weiß, wofür die SPD steht. Im Bund und in vielen Ländern sind außerdem die Grünen heute die führende Partei links der Mitte, was zum Herding-Effekt parteiungebundener progressiver Wähler hin zur stärkeren Partei führt – was also früher der SPD nutzte, gerät ihr heute zum Nachteil.

Und nun gönnte man sich ein monatelanges Kandidaten-Auswahl-Verfahren, so nach der Art: Parteiführungen sind sowieso überschätzt. Ohne torkelt es sich auch ganz gut durch die Zeit. In einer solchen Lage kann man als Sozialdemokrat in Depression verfallen. Oder aber sich autosuggestiv in einen Zustand der Euphorie beamen. Letzteres geschieht zur Zeit ein wenig.

Für das Schaulaufen der Kandidatenpärchen haben sich immerhin ein paar hunderttausend Menschen interessiert, etwas mehr als 213.000 Parteimitglieder haben nicht nur mitgestimmt, sondern sogar einem der Gespanne die Stimme gegeben. Von Innen fühlt sich das wie eine Belebung an. Und in der Stichwahl stehen sich zwei klar konturierte Alternativen gegenüber: Das Duo Olaf Scholz-Klara Geywitz, die eher den „rechten“ Parteiflügel repräsentieren (oder das klassische Parteiestablishment), und das „linke“ Anti-Establishment-Pärchen Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

Plötzlich scheint das Rebellen-Duo Walter-Borjans/Esken sogar in der deutlichen Favoritenrolle. Denn Kandiatenpaare, die eher die Gerhard-Schröder-Linie repräsentieren, brachten es im ersten Durchgang nur auf etwa 37 Prozent, dezidiert linke Paare auf fast 46 Prozent. Es deutet sich jedenfalls klar an, dass die Parteibasis eher einem radikalen Kurswechsel zuneigt. Weiter so – das ist eine Parole, die eher schlecht verfängt. Ein bisschen geht ein Ruck durch die Partei, die schon so an sich verzweifelte.

Das überraschend starke Links-Duo hat jetzt auch Momentum auf seiner Seite. Auch das Publikum jenseits der Partei beginnt sich für „Saskia und Norbert wer?“ zu interessieren, die bisher eher unbekannt waren. Vor allem Norbert Walter-Borjans wird bereits als „der deutsche Bernie Sanders“ bezeichnet. Ein älterer Herr, längst mit Rentenanspruch, der plötzlich einen Veränderungs-Schwung repräsentiert. Der in seiner Zeit als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen kein mutloser „Ich-trau-mich-Nix“-Sozi war, sondern den wirtschaftlich Mächtigen auf die Zehen stieg. Der die Millionäre und Milliardäre jagte, die jahrelang den Fiskus betrogen. Ein „Robin Hood der Steuerzahler“, der ein paar sozialdemokratische Grundüberzeugungen glaubhaft verkörpert. Seine Karriere hat er irgendwann im vorigen Jahrtausend an der Seite von Johannes Rau begonnen, was nicht die schlechteste Referenz ist, wenn man sich als „echter Sozi“ empfehlen will. 80.000 Jusos haben Walter-Borjans und Saskia Eskens zusätzlich hinter sich, also die idealistischen Jungen, die noch Aktivismus mitbringen.

Man wäre versucht, die Wahl der beiden Outsider als „mutig“ zu apostrophieren, wäre nicht beim Zustand der SPD eine Entscheidung gegen einen markanten Kurswechsel die eigentliche mutige, weil annähernd suizidale Tat. In Wirklichkeit kann wohl nur von Gespann Walter-Borjans/Eskens so etwas wie eine Erneuerung ausgehen. Die beiden Favoriten sind zwar weit davon entfernt, irgendwie „radikal“ zu sein, aber sie haben wenigstens markant sozialdemokratische Positionen: Für Umverteilung, für massive öffentliche Investitionen, für sozialen Wohnbau, für höhere Löhne, kurzum: für eine Sozialdemokratie, die eher kompromisslos auf Seiten der „einfachen Leute“ steht statt einer, die zunehmend pragmatisch, verzagt und ununterscheidbar in der Mitte fuhrwerkt. Die Linken bräuchten mehr konzeptive Radikalität, damit sie eine glaubwürdige Alternative werden. Bernd Ulrich, der „Zeit“-Redakteur, hat dafür die schöne Formel von der „besonnenen Radikalität“ geprägt. Radikal nicht im Sinne von Krawall schlagen, aber radikal im Sinne von Konzeptionen, die wirklich über die Bescheidenheit des Klein-Klein hinaus gehen. Nur so kann der Nebel des Dauerdepressiven weg geblasen werden, der über unseren Gesellschaften hängt, dieses Klima der Angst, dass der Boden unter den Füßen wankender wird. Linke Parteien müssen Parteien der Hoffnung sein und des Optimismus.

Läuft alles gut, könnten die beiden die Sozialdemokratie aus der Krise führen. Wirtschaftspolitisch stehen sie jenseits des Mainstreams, biedern sich nicht an den kapitalistischen Common Sense mit seinen Phrasen vom „Standortwettbewerb“ und „Gürtel enger schnallen“ an, sie verkörpern auch nicht, seit Jahrzehnten satt im Establishment angekommen zu sein. Aber wie gesagt: Wenn alles gut läuft…

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Zu Euphorie und Überschwang ist nämlich auch kein Anlass. Die beiden Kandidaten sind bisher nicht gerade als charismatische Rampensäue aufgefallen. Und das ist in der zeitgenössischen Mediendemokratie keine unerhebliche Schwäche. Noch wirken sie eher wie zwei Funktionäre aus einem kleinen Ortsverein, die sich zufällig auf die Hauptbühne verirrt haben. Bundespolitische Führungserfahrungen haben sie noch keine großen gehabt, was es auch nicht eben erleichtern wird, einen Flohzirkus wie die SPD zusammen zu halten. Der Berliner Apparat wird es ihnen nicht leicht machen, wenn sie Gewohnheiten aufbrechen wollen. Außerdem hat eine demokratische Urwahl von Vorsitzenden viele Vorteile, aber einen erheblichen Nachteil: Sie führt zwar eine Entscheidung herbei, aber feuert auch Rivalitäten an und verstärkt zentrifugale Kräfte, da einer großen Zahl an „Siegern“ auch eine meist nicht viel kleinere Zahl an „Verlierern“ gegenüber steht. Wer also immer bei solchen Prozedere gewinnen mag, ist nicht gerade zu beneiden.

Hinzu kommt das Hauptdilemma: Wenn sie glaubwürdig den versprochenen Kurs vertreten wollen, müssten sie die SPD eigentlich eher bald aus der Großen Koalition führen. Sollten die Umfragen für die Partei nicht durch den bloßen Führungswechsel überraschend prompt nach oben schnellen, wären Neuwahlen für die Sozialdemokraten aber tödlich. Da kann man schnell in eine Doppelmühle geraten. Man weiß schließlich: Was als Licht am Ende des Tunnels erscheint kann genauso gut auch ein Zug sein, der auf einen zurast.

Mit einem Wort: Die Sozialdemokratie muss sich neu erfinden, um aus ihrer Krise zu kommen – und dafür sind Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskens das einzige Angebot. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die SPD nach ihrer Vorsitz-Wahl erheblich besser dastehen wird als vorher, ist dennoch geringer, als es euphorisierten Parteiaktivisten im Augenblick erscheinen mag.

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