The case for a radical, liberal left

We should counter the radical right, Robert Misik writes, not with left-wing populism but the power of reason.

My Column for Social Europe, April 2024

Today, democracy is threatened almost everywhere by the spirit of illiberalism, anti-pluralism and an authoritarian far right. This has a number of sources. They include a growing climate of pessimism and fear of decline—displacing the feeling of progress associated with the postwar decades in western Europe—as well as counter-reactions to progressive cultural changes over time, such as those associated with tolerance and anti-discrimination.

Also at work however has been a dumbing down of discourse. To borrow a phrase from Jürgen Habermas, in a ‘structural transformation of the public sphere’ straightforward propaganda has been conveyed through ‘social media’ and the internet in general, the headline culture of the tabloids and media sensationalism. The case for a radical, liberal left weiterlesen

Israel, Hamas and the Gaza war: delusion and reality

Robert Misik steers a path between Germans hunting ‘anti-Semites’ everywhere and being seen as accomplices to an ‘Israeli genocide’.

My Column for Social Europe, January 2024

A bloodbath is taking place in the middle east and yet the world is embroiled in absurd debates. One is tempted to say, paraphasing Marx: here the tragedy, there the farce. The German-speaking world—and Germany in particular—takes a decidedly pro-Israeli stance, while in other societies an equally dubious anti-Israeli position prevails.

At the beginning of October, Hamas and other Islamist groups not only launched an attack from the Gaza strip but also carried out a cruel massacre. Over 1,200 people were killed, most of them civilians, young party people, including many peace activists: the majority of the inhabitants of the affected kibbutzim belonged to the Israeli left. Horrific war crimes were committed which cannot be justified as ‘collateral damage’ of legitimate resistance. Nor can we ignore the fanatical ideology of radical Islamism, which eliminates empathy and justifies acts of bloodshed. Israel, Hamas and the Gaza war: delusion and reality weiterlesen

Keine Botschaft, nirgends.

Mehr als ein „Rechtsruckerl“. Die Europawahlen zeigen die ganze Hilflosigkeit der hergebrachten Linken gegenüber der radikalen Rechten.

Die Zeit, 10. Juni 2024

Unlängst begegnete ich einem alten Bekannten aus Griechenland, der seinerzeit in der linken Syriza-Regierung vor bald zehn Jahren eine große Nummer war. „Weißt Du“, sagte der einstige akzentuierte Links-Funktionär, „wir müssen die rechte Welle bremsen. Bremsen, denn stoppen können wir sie eh nicht.“ Eine bemerkenswerte Aussage für einen, der seinerzeit die Meinung vertreten hat, das Problem der zeitgenössischen moderaten Linken sei, dass sie keinen Plan mehr für die die Verbesserung der Welt habe, sondern nur mehr „das Schlimmste verhindern“ wolle.

Die rechte Woge schwappt durch Europa. Es ist das, was Soziologen und Polit-Analysten einen „populistischen Moment“ nennen. Unzufriedenheit mit Regierenden, eine „gegen-das-System“-Stimmung, Wutbewirtschaftung durch politische und mediale Empörungsunternehmer, Atmosphären der Frustriertheit – das ist der Cocktail, der im Augenblick jedenfalls die politischen Leidenschaften bestimmt und damit auch Wahlergebnisse produziert. Keine Botschaft, nirgends. weiterlesen

Demokratie als Lebensform

Warum wir die Meinungsfreiheit verteidigen sollten – selbst die unserer Gegner.

Zackzack, Juni 2024

In Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention – hierzulande im Range eines Verfassungsgesetzes – heißt es: „Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung.“ Ganz ähnlich, nur im Rhythmus und Duktus noch pathetischer, heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung … frei zu äußern.“

Es klingt wie eine Banalität, denn das Grundrecht, seine Meinung frei zu äußern ist ja quasi das grundlegende Freiheitsrecht, der Kern liberaler Gesellschaften, in gewissem Sinne noch vor Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Freiheit von Menschen, sich zur Kundgebung einer bestimmten Meinung zu versammeln, setzt ja gleichsam voraus, dass diese Meinungen vorher überhaupt artikuliert werden konnten – ansonsten würden die Menschen ja nicht einmal wissen, dass es andere Menschen gibt, die ihre Meinung teilen, mit denen sie sich versammeln könnten. Demokratie als Lebensform weiterlesen

Räuberischer Jude, verschlagener Araber

Wie jahrhundertealte Stereotypisierung die Konflikte um Israel, die Hamas und den Gazakrieg vergiften.

Das Schlagloch, meine Kolumne aus der taz, Mai 2024

Weder bei kleinen noch den ganz großen existenziellen Fragen und Konflikten sollte man die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das eine und sein exaktes Gegenteil richtig sein kann. Früher nannte man das eine tragische Konstellation, so wie etwa Kreon und Antigone zugleich recht hatten, wenngleich sich deren Maximen auch in keiner Weise in einen „Kompromiss“ auflösen ließen. Heute spricht man gerne von Ambiguitäten, die bitte ausbalanciert werden sollen.

So ist einerseits wahr, dass der Begriff des „Antisemitismus“ heute zur proisraelischen Kriegspropaganda missbraucht wird, dazu, andere Stimmen einzuschüchtern und zu diffamieren, während zugleich wahr ist, dass es Antisemitismus gibt, und dass auch die Kriegskritik von Antisemitismus vergiftet sein kann. Die Netanjahu-Propagandaschleudern haben den Begriff aber sinnentleert und unbrauchbar gemacht. Räuberischer Jude, verschlagener Araber weiterlesen

Was wurde eigentlich aus der „Toskanafraktion“?

Vom hedonistisch gewendeten Internationalismus. Rückschau auf ein vergessenes Phänomen.

Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Juli 2024

Es war so um die Zeit, als ich vom studentisch-radikalen Pseudo-Bolschewiken allmählich zum gemäßigten Linken wurde, als die Älteren um mich herum plötzlich den Genuss entdeckten, was ich mit Erstaunen und Neugierde zur Kenntnis nahm, ohne groß daran teilzuhaben, weil ich sowohl von meinen lebenskulturellen Hintergründen als auch von meinem Kontostand dazu nicht in der Lage war (was übrigens, wie wir aus heutigen „Klassismus“-Debatten wissen, zusammenhängt).

Ich erinnere mich an meine Aufgaben als frischgekürter Jungredakteur, als ich in der „Arbeiter-Zeitung“, damals noch existent und formal sogar weiter „Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs“, eine Doppelseite zu betreuen hatte, bei der es plötzlich um gute Weine ging. Ich hatte von guten Weinen keine Ahnung, konnte mir bis dahin in meinen bevorzugten Kneipen nur den Hauswein leisten, und lernte faszinierende Begriffe wie „Brunello di Montalcino“ kennen, die sich fortan für ewig in mein Gedächtnis einbrannten. Von meinen ersten Monatlöhnen fuhr auch ich mit dem Zug von Wien nach Florenz, wo ich an jeder Ecke irgendwelche Bekannten traf, etwa den jungen Stadtrat Michael Häupl, der später als Wiener Bürgermeister zu einer Legende werden sollte. Man sagte mir, dass die Freundestrupps in kargen Bauernhäusern mit Natursteinen in den Hügeln der Toskana Urlaub machten, und man schwärmte mir von den geschwungenen Straßen, den idyllischen Dörfern, dem Blick in die Landschaft und den imposanten Zypressen vor. Was wurde eigentlich aus der „Toskanafraktion“? weiterlesen

Die Verfassungshasser

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt auch für Palästina-Solidaritätsgruppen. Man kann ihre Parolen kritisieren und dennoch ihr Grundrecht verteidigen.

Zackzack, Mai, 2024

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, ist eine der berühmtesten Formulierungen von Rosa Luxemburg. Über die Jahrzehnte gewann die kanonische Wendung ein Eigenleben, und heute können wir sie sogar als die große Maxime des liberalen, demokratischen Verfassungsstaates ansehen. Sie hat einen grundrechtlichen Pathos, und Pathos ist manchmal nicht schlecht, solange es nicht in Kitsch kippt.

Vergangene Woche wurde in Wien, wie auch in anderen Städten – von den USA bis Berlin – ein propalästinensisches Protestcamp geräumt. Ich habe mir erlaubt, auf Twitter die recht nüchterne Frage zu stellen, „mit welcher rechtlichen Begründung die Einschränkung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ gerechtfertigt wurde, und musste mir schon der unschuldigen Frage wegen unterstellen lassen, ein Hamas-Verteidiger oder sonstwas zu sein. Andere haben ganz unverhohlen gemeint, dass ihnen die Räumung einer Versammlung, an der aus ihrer Sicht widerliche Parolen gerufen werden, schon recht sei.

Man könnte diese Leute auch als „Verfassungshasser“ bezeichnen. Die Verfassungshasser weiterlesen

Die Arbeit hoch

Arbeit, Moral und Kitsch: Heute werden „die Fleißigen“ gegen „die Faulen“ aufgehusst.

Mein taz-Essay zum 1. Mai 2024

„Kampftag der Arbeiterklasse“ ist der 1. Mai, seit er 1890 als internationaler Tag der Sozialisten ausgerufen wurde. Schnell war der Maifeiertag auch eine Art Hochamt. Parole: „Die Arbeit hoch!“ Arbeitsleid und Schinderei wurden zwar angeprangert, zugleich auch das Pathos der Arbeit beschworen. Der Stolz auf die Arbeit war keine Erfindung der Arbeiterführer, der stammt aus den Handwerker- und frühen Facharbeitermilieus: Stolz auf die eigenen Fertigkeiten und dass man mit der eigenen Anstrengung die Familie durchbringt.

Maskulin geprägt war das, in den Bilderfundus ging eher der männliche Arbeiter ein. Das eigene „Können“ gab Respekt und Selbstrespekt, genauso wie die Tatsache, dass die Arbeit mit Anstrengung verbunden war. Das waren gewissermaßen die Werte der arbeitenden Klassen: dass man „anpackt“, keine „Spleens“ hatte. Die Arbeit hoch weiterlesen

„Eine illiberale Demokratie gibt es nicht…“

Im Mai hatte ich die große Ehre, bei der Befreiungsfeier des Mauthausenkomitees Gallneukirchen die Festrede halten zu dürfen. Hier jetzt etwas verspätet der Text zum Nachlesen:

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
verehrte Antifaschisten!

Ich sage das mit einer gewissen Absicht: „Antifaschisten“.

Denn heute wird gelegentlich so getan, als wäre der „Antifaschismus“ eine Meinung unter anderen, oder sogar so etwas wie eine radikale Werthaltung. Aber der Antifaschismus ist in unserer Republik keine bloße Meinung, die die einen haben, die anderen ablehnen können. Der Antifaschismus ist der Gründungskonsens unserer Republik, er ist der Gründungskonsens des demokratischen Nachkriegsösterreichs, er ist die Staatsräson dieses Landes.

Der Antifaschismus ist keine „Meinung“ unter mehreren möglichen, sondern der Gründungskonsens dieser Republik.

Jede Person, die kein Antifaschist ist, ist in diesem Sinne ein Staatsfeind.

Die jährlichen Befreiungsfeiern, an diesem Mahnmal wie an anderen Orten, sie haben den Sinn, uns dessen zu vergegenwärtigen. „Eine illiberale Demokratie gibt es nicht…“ weiterlesen

Die „Fleißigen“ und die „Faulen“

Der Soziologe Linus Westheuser über gefährliche Schlagseiten des Arbeitsbegriffes und von Sozialstaatsdebatten.

Arbeit & Wirtschaft, April 2024

Sie kommen gerade aus dem Urlaub zurück. Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, nicht fleißig genug gewesen zu sein?

Westheuser: Ach Gott nein, das wäre ja eine traurige Haltung zum Leben (lacht). Außerdem ist der Urlaub ja eine wohlverdienter Teil des Arbeitens. Selbst für jemanden wie mich, der keine Balken schleppt, sondern den Großteil des Tages in den Computer schaut.

Dass man „fleißig“ sein und Leistung erbringen muss, das ist ein beherrschender Geist in unserer Gesellschaft, prägt unser Selbstverständnis und setzt sich sogar in unser Über-Ich fest.

Westheuser: Ja, es ist durchaus beängstigend, wie tief der Gedanke eingesickert ist, wir müssten uns unsere Wertigkeit als Mensch durch Leistung verdienen. Das ist Teil dessen, was Max Weber das moderne „Berufsmenschentum“ nennt. Leistung wird dabei oft auf Erfolg oder passive Pflichterfüllung reduziert oder so gewendet, dass man auf die herabblickt, die vermeintlich weniger leisten als man selbst. Zudem wird als Leistung oft nur Lohnarbeit verstanden, nicht aber unbezahlte Sorgearbeit, die Pflege von Beziehungen, politische Arbeit oder lokales Engagement. Das ist eine Verengung gesellschaftlicher Anerkennungsquellen. Die „Fleißigen“ und die „Faulen“ weiterlesen

Durch die Berge ins Exil

Uwe Wittstock erzählt in einer packenden Episodendokumentation, wie ein verwegener US-Beamter hunderte Künstler vor den Nazis rettete.

Falter, April 2024

Für die „Süddeutsche“ ist es die „große Erzählung der deutschen Exilgeschichte“, für Florian Illies in der „Zeit“ ist es schon das wichtigste Buch der Saison: Uwe Wittstocks atemberaubende Geschichtserzählung „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“.

Auf atemberaubende Weise rekonstruiert der Autor und Literaturkritiker Wittstock die verzweifelten Rettungsaktionen der europäischen Dichter, Künstler, Avantgardisten aus Frankreich, nachdem die Nazi-Armeen die Republik gleichsam überrannt hatten und politische Dissidenten, jüdischen Geflüchteten und antifaschistischen Künstler in einer lebensbedrohenden Falle saßen. Es ist das Who-is-Who der europäischen Kunstwelt, das sich panisch in den Südwesten Frankreichs geflüchtet hat, in den Internierungslagern des Vichy-Regimes eingesperrt war – und dessen Überleben davon abhing, es innerhalb kurzer Zeit über Spanien und Portugal nach Übersee zu schaffen. Durch die Berge ins Exil weiterlesen

Erinnerung an eine Irrsinnigkeit

Sollen die Corona-Maßnahmen „aufgearbeitet“ werden? Die erschreckende Befürchtung ist, dass vernünftige Diskurse gar nicht mehr möglich sind.

Das Schlagloch, meine Kolumne aus der taz

Eines der eigenartigsten Phänomene der Geschichte ist, wie wenig die „spanische Grippe“ 1918-1920 Eingang in Erinnerungsliteratur, Geschichtsschreibung, oder Populärkultur gefunden hat. Immerhin war sie das größte Desaster des 20. Jahrhunderts mit höchstwahrscheinlich rund 50 Millionen Opfern. Aber schon in der zeitgenössischen Publizistik war sie nur eine Randnotiz, kam gar nicht vor zwischen den Leitartikeln zu Revolution, Sturz von Kaiserhäusern, Kriegsende, Bolschewismus oder dem Ringen zwischen Demokratie und Reaktion. Hinterher war das Massensterben schnell verdrängt. Dass dieses Desaster so frappierend wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis fand, führen kluge Köpfe daher auch auf folgende Tatsache zurück: Es gibt so wenige Episoden, die erlauben, sich darüber Heldengeschichten zu erzählen. Im Gegenteil, die Menschen mochten nicht, was die Epidemie aus ihnen machte: Egoisten nämlich, die nur überleben wollen. Seuchen sind keine Schule der Solidarität.

Man kann das heute etwas besser nachvollziehen. Jens Spahn, während der Covid-Jahre Gesundheitsminister, ist ja nicht für besonders intellektuelle Heldentaten berühmt, aber er hat am Höhepunkt der Pandemie einen tiefsinnigen Satz gesagt: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Erinnerung an eine Irrsinnigkeit weiterlesen