Einfallstor zur Tyrannei

Martin Wolf, der einflussreichste Wirtschaftsjournalist der Welt, untersucht die Krise des demokratischen Kapitalismus.

Falter, Oktober 2023.

Er sei, schreibt Martin Wolf in den Eröffnungspassagen seines neuen Buches, stets ein Pessimist gewesen, was ihn einerseits vor negativen Überraschungen bewahrt, und gelegentlich unerwartete Freuden beschert habe – dann nämlich, wenn sich die Dinge besser entwickelten als befürchtet. „Die Demokratie ist in der Vergangenheit untergegangen. Es wäre dumm anzunehmen, dass das nicht wieder geschehen könnte“, schreibt Wolf. Der Chefkommentator und Co-Herausgeber der „Financial Times“ ist so etwas wie der global bedeutendste Wirtschaftsjournalist. 77 Jahre ist Wolf heute, der in London als Sohn jüdischer Wiener Flüchtlinge geboren wurde. Sein Vater arbeitete als Theaterautor, Dramaturg, später TV-Macher, vor der Emigration beispielsweise mit Max Reinhardt am Wiener „Volkstheater“.

Martin Wolf, in seinen politischen Ansichten ein Liberaler, in seinen wirtschaftspolitischen am ehesten ein Sozialdemokrat, umkreist sorgenvoll die autoritären Versuchungen und die Krisen der westlichen Demokratie. Seine Grundthese: „Wirtschaftliche Enttäuschungen sind die Hauptursache“ unserer Kalamitäten. Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik und einem Wirtschaftssystem Prosperität, zumindest einigermaßen erfreuliche Zukunftsaussichten. Schleicht sich chronische Unsicherheit ein und Abstiegsangst dann öffnet sich ein „Einfallstor zur Tyrannei“. Einfallstor zur Tyrannei weiterlesen

Senkt die Zinsen!

Wegen der Inflation drehen den Zentralbanken wild an der Zinsschraube. Damit verschärfen sie noch das Problem, kritisiert Maurice Höfgen.

Wir alle ächzen unter der Teuerung, beklagen die Inflation. Aber was ist das eigentlich – „Inflation“ – und was hilft dagegen? Diesen Fragen geht Maurice Höfgen in seinem neuen Buch nach. Höfgen, Ökonom, Betriebswirt, Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestags, ist ein bisschen so etwas wie das neue Wunderkind der progressiven Ökonomie. 27 Jahre ist er gerade alt geworden, „Deutschlands spannendster Nachwuchs-Ökonom“ nennt ihn die „Berliner Zeitung“.

Inflation kann viele Ursachen haben. Preisveränderungen gibt es auch in völlig normalen Zeiten. Dann gibt es die klassische Inflation: Wenn die Wirtschaft brummt, die Konsumnachfrage anzieht, wenn die Unternehmen an ihren Kapazitätsgrenzen produzieren, wenn Vollbeschäftigung herrscht und die Beschäftigten kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen können. Gerne spricht man dann davon, dass die Wirtschaft „überhitzt“.

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Wirtschaftsdemokratie

Axel Honneth über den Geist der Demokratie und den Ungeist von Herumkommandiererei.

Falter, Juni 23

Die Vielen sind in unserer Gesellschaft nominell der oberste Souverän, zugleich aber faktisch verdammt machtlos. Erlebt wird diese Machtlosigkeit nicht selten als „Ohnmacht des kleines Mannes“, der empfindet, keine Stimme zu haben, nicht vertreten zu sein, also sich nicht wirksam im demokratischen System artikulieren zu können. Wirtschaftsdemokratie weiterlesen

Die Glamouröse

Susan Sontag, bis heute strahlendes Role-Model einer Intellektuellen, würde dieser Tage 90 Jahre alt. Anna-Lisa Dieter widmet ihr packende hundert Seiten.

Falter, Jänner 2023

Susan Sontag, das ist so eine, an der kann man sich sowieso nicht sattlesen. Neunzig Jahre würde die amerikanische Autorin und Intellektuelle dieser Tage. Aus diesem Anlass brachte die Münchener Literaturwissenschaftlerin Anna-Lisa Dieter in der 100-Seiten-Reihe des Reclam-Verlags einen schmalen biografischen Essay heraus. Dabei gelingt es ihr, wie die „Süddeutsche“ bewundernd anmerkte, auf „knappsten Raum eine echte Essenz von Sontags Werk zu präsentieren“. Tatsächlich, es ist eine fesselnde Lektüre, die sowohl Einsteiger ins Sontag-Fantum begeistern kann und auch Sachkundige und alte Fahrensleute dieses Metiers mit Freude erfüllt.

Susan Sontag ist ja eine Role-Model für die unabhängige, literarisch operierende Intellektuelle, die sich für die gesamte Welt interessiert. Und besonders war und ist sie bis heute ein solches Vorbild für Frauen und queere Personen. Aber sie ist zugleich auch ein Fall für sich. Werk und Person, das lässt sich in Sontags Fall noch viel weniger trennen, als es sich sonst nicht trennen lässt.

„Ich will mit vielen Leuten schlafen. Ich gedenke nicht, mich von meinem Verstand dominieren zu lassen“, notierte sie einmal. Sexuelle Beziehungen und Begegnungen – „mit vielen Leuten“ –, da ging es wahrscheinlich nicht primär um Sex und Geilheit, sondern darum, möglichst viele Menschen intensiv kennen zu lernen. Ohnehin ist kaum ein Begriff so zentral bei Sontag wie der der „Intensität“. Sie setzte sich aus, gierte nach Intensität, erfand sich stets neu, und dabei hatte sie auch eine skurrile pedantische Note. „In der Zeit, die in diesem Notizbuch wiedergegeben wird, werde ich wiedergeboren“, notierte sie in das Tagebuch, das sie seit ihrem 14. Lebensjahr führte. Die Kunst, sie diente ihr auch zum „Entwurf der Person, die sie sein will“ (Dieter). Sontag führte Listen, der Bücher, die sie lesen müsse, von Kinofilmen, von allem. Das hatte etwas rührend Streberhaftes. Die Glamouröse weiterlesen

Bescheiden, intellektuell, integer

Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer, Erfinder des Eurokommunismus, war ein Gigant der Linken. Eine neue Biografie erinnert an diese packende Figur.

Es ist ein ergreifendes TV-Dokument: Die letzte Rede von Enrico Berlinguer, 1984 in Padua. Selbstlosigkeit und Verantwortungsgefühl hatten den Anführer der Kommunistischen Partei Italiens stets ausgezeichnet, es waren diese Charaktereigenschaften, die den scheuen Berlinguer zum populärsten Politiker Italiens machten. Und so ist auch diese letzte Wahlkampfrede: Berlinguer wird blass, ringt auf der Bühne nach Luft. Das Auditorium merkt, dass etwas nicht stimmt. Berlinguer greift nach einem Glas Wasser und müht sich, die Rede zu Ende zu führen. Er fühlt sich fürchterlich, hält sich aber diszipliniert aufrecht und bricht nicht ab. Berlinguer hat auf offener Bühne eine Gehirnblutung erlitten, erfüllt seine Aufgabe aber dennoch bis zum Ende. Als er fertig gesprochen hat, wird der gerade einmal 62jährige von der Bühne geführt, bricht zusammen und fällt ins Koma. Zu seinem Begräbnis kommen 1,5 Millionen Menschen. Die größte Trauerprozession in der italienischen Geschichte.

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Du sollst (nicht) lügen!

Nach der Wahrheit: Lars Svendsen hat eine schlaue und geistreiche „Philosophie der Lüge“ geschrieben.

Die meisten Menschen sind die meiste Zeit weitgehend ehrlich, dennoch kommt kaum jemand ohne kleinere Lüge durch den Tag. Extrovertierte Menschen lügen mehr als introvertierte, und nicht nur, weil sie sowieso häufiger Aussagen treffen. Männer und Frauen lügen in etwa gleich oft, jedoch lügen Frauen häufiger, um Gefühle anderer zu schonen und Männer mehr, um die eigene Vortrefflichkeit hervorzuheben. Die allermeisten Leute haben bei solchen Lügen ein schlechtes Gefühl – das Gewissen rührt sich –, finden aber immer gute Gründe, um die Lügen zu rechtfertigen. Womit wir schon bei schwierigen ethischen Abwägungsfragen wären und somit mittendrin in Lars Svendsens „Philosophie der Lüge“. Der norwegische Philosoph schließt damit an kluge Abhandlungen der vergangenen Jahre an, so hat er beispielsweise auch schon eine „Philosophie der Einsamkeit“ und eine „Philosophie der Langeweile“ vorgelegt.

„Fast jeder ist der Meinung, dass es prinzipiell falsch ist zu lügen“, bemerkt Svendsen. Selbst jene, die die Lüge für rechtfertigbar halten. Man baucht keine Begründung, um die Wahrheit zu sagen, jedoch einen Grund, um zu lügen. Was die privaten Seiten des Lebens betrifft: Ganz ohne Lügen kommt man ohnehin nicht durchs Leben und absolute Ehrlichkeit gilt sogar als verpönt. Jemand, der in jeder Gesellschaft stets die absolute Wahrhaftigkeit pflegt, wird wohl bald zu keiner Zusammenkunft mehr eingeladen. Sogar Selbstbetrug und Gigantomanie kann nützlich sein, da sie Menschen dazu bringen, Dinge zu versuchen, die sie bei realistischem Selbstbild niemals wagen würden. Und auch die Flunkerei wird durchaus gerechtfertigt, wenn sie dazu dient, andere vor etwaigen seelischen Verwundungen zu bewahren oder Gruppen von Menschen (oder eine ganze Gesellschaft) vor negativen Entwicklungen. Von Kant bis John Stuart Mill wurde aber auch der Einwand vorgebracht, dass der Preis der Lüge stets ihren kurzfristigen Nutzen übersteigt, da die Unehrlichkeit das Misstrauen sät, nicht nur eine Person etabliert, die einmal lügt, sondern die in einem existenziellen Sinne „ein Lügner“ ist. Die Lüge kann überhaupt nur existieren, weil die Menschen sich im Allgemeinen vertrauen, gerade dieses Vertrauen wird aber durch die Lüge verraten und zerstört. Du sollst (nicht) lügen! weiterlesen

Plädoyer für den Kompromiss

Miteinander trotz Dissens: Die Philosophin Véronique Zanetti und ihre „Spielarten des Kompromisses“.

Der Kompromiss hat einen schlechten Ruf. Der Kompromiss würde alles verwässern, von guten Ideen bleiben in „lauen Kompromissen“ nichts als ein paar Fußnoten übrig, so die Klage. Kompromisse sorgen für Schneckentempo, wo es eigentlich schnell voran gehen müsste. Noch schlimmer sind die „faulen Kompromisse“, bei denen alle Seiten ihre Werte aufgeben, nur um einen kleinen, nichtssagenden Vorteil zu ergattern. Menschen gehen sogar Kompromisse mit sich selbst ein: Sie haben vielleicht bestimmte Werte, es ist aber unbequem, diese „kompromisslos“ zu verfolgen. Und dann tun sie Dinge, die mit ihren Werten nicht leicht in Übereinstimmung zu bringen sind. „Wenn es um Kompromisse geht, taucht das Wort ‚faul‘ fast schon reflexartig auf“, formulierte vor einigen Jahren die „Süddeutsche Zeitung“.

Kompromisse lassen sich leicht anklagen. Beispiel: Wenn die Grünen mit einer weit nach rechts abgebogenen ÖVP eine Regierung bilden – und dann auch bei schwerem Wetter am Regierungspakt festhalten. Oder: Soll man mit einem bewaffneten Gewaltherrscher wie Wladimir Putin noch verhandeln und einen Kompromiss suchen, um vielleicht „noch Schlimmeres“ zu verhindern – oder muss bei einem Regime, das so sehr das Böse verkörpert, einfach entschlossen dagegengehalten werden?

Diesen und ähnlichen Fragen stellt sich die Bielefelder Philosophieprofessorin Véronique Zanetti in ihrem Buch „Spielarten des Kompromisses“. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen: der Kompromiss und die Frage, wie labile Einigungen entstehen, seien in der Philosophie bisher weitgehend ignoriert worden.

Zanettis Buch kulminiert in ein „Plädoyer für den Kompromiss“. Dabei macht es sich die Autorin keineswegs leicht. Sie weiß, dass „große soziale Veränderungen“ meist von jenen Menschen vorangetrieben wurden, „die sich kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben“.

Aber zugleich sind diese Veränderungen in Kompromissen verwirklicht worden. Mehr noch: Der Kompromiss ist selbst eine Tugend: er lebt von der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Vom Respekt füreinander. Und auch von der Anerkennung des Vorrangs einer friedlichen Lösung. Plädoyer für den Kompromiss weiterlesen

Philosophie der Einsamkeit

Martin Hecht hat einen klugen Großessay über „die Einsamkeit des modernen Menschen“ geschrieben.

Falter, August 2021

Einsamkeit ist schon seit einigen Semestern der letzte heiße Scheiß. Sie sei eine „Epidemie im Verborgenen“ wird konstatiert, Sozialpsychologen schreiben populäre Bücher darüber, es wird beschrieben, dass sie unter Studierenden genauso grassiert wie unter alleinlebenden Rentnern und Rentnerinnen, sogar in schlecht funktionierenden Paarbeziehungen macht sie sich breit, wenn sich Menschen nur mehr anschweigen. Existenzielle Einsamkeit kann das ganze Dasein unterminieren und Mediziner haben nachgewiesen, dass sie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele andere Pathologien auslösen kann. Kaum eine Zeitung, die sich nicht dem „Lebensgefühl unserer Zeit“ („profil“) gewidmet hat. In Großbritannien haben sie sogar eine Regierungsbeauftragte gehabt, die dann als global erste „Einsamkeitsministerin“ für Schlagzeilen sorgte, und durch die Corona-Maßnahmen wurde das Thema noch einmal virulenter. Ende Juni waren dem „Spiegel“ die verschiedenen Aspekte der Einsamkeit eine fette 6-Seiten-Story wert.

Man kann also getrost das Urteil abgeben, dass zum Thema „Einsamkeit“ schon viel gesagt ist. Und Dennoch ist es dem deutschen Sachbuchautor und Journalisten Martin Hecht gelungen, ein Buch über „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ zu schreiben, das über das tägliche Geplapper hinaus geht. Denn mit soziologischen Kategorien alleine, etwa über die Zunahme von Single-Haushalten, die heutige Mobilität, die sehr viele Leute in Städte verschlägt, in denen sie niemanden kennen, über den Zerfall der Familie und die daraus folgende Einsamkeit der Alten ist es bei dem Thema nicht getan. Hecht hat eine Art „Philosophie der Einsamkeit“ geschrieben. Einsamkeit, so konstatiert er, ist „eine Art soziales Virus, das kollektiv über die gesamte Gesellschaft gekommen ist“.

Die Moderne ist eine Geschichte der Individualisierung und das heißt zunächst: das entwickelte Individuum, das seine Freiheit lebt, seine Talente entwickelt, wird zu einem hohen gesellschaftlichen Wert. Zugleich werden alte traditionelle Bindungen zersetzt, im Dorf, in überschaubaren Kollektiven, in der Familie. „Alles Ständische und Stehende verdampft“, hatte schon Karl Marx proklamiert. Zunächst entstehen damit noch neue Bindungen und Solidaritäten, in den Stadtvierteln, durch die Arbeiterbewegung, in Parteien, Vereinen, was auch immer. Aber mit den zweiten Individualisierungsschüben gehen auch diese Bindewirkungen verloren. „Mach Dein Ding“, wird zum Zeitgeist. All das ist hochgradig ambivalent. Der legendäre Soziologe Georg Simmel hat schon vor hundert Jahren beschrieben, wie uns etwa die moderne Geldwirtschaft befreit: Wir müssen uns mit dem Bäcker nicht mehr anfreunden, er gibt uns Brot, wenn wir ihm für ein „Bitte“ und „Danke“ ein paar Münzen auf dem Tresen legen. In den modernen Städten können wir nebeneinander her leben, sind befreit von sozialer Kontrolle.

Die alte Enge in der kuhwarmen Küche, sie war bedrückend, und die Menschen hatten ihre Gründe, aus ihr auszubrechen. Millionen Menschen haben bewusst die Freiheit der Individualisierung gewählt, und über Millionen andere kam sie, gewissermaßen via sozialen Wandel, von selbst. Der Preis ist aber existenzielle Einsamkeit. Philosophie der Einsamkeit weiterlesen

Die Eigentorjäger

Die SPÖ sollte als stärkste Oppositionspartei die Kurz-Regierung jagen, versinkt aber in Zanksucht und Selbstbeschädigung. Eine Geschichte von langen Konflikten und sozialer Imkompetenz hat dazu beigetragen. Wie kommt man da raus?

Falter, Juli 2021

Schock, Ratlosigkeit, lange Gesichter. Als beim SPÖ-Parteitag bekannt wurde, dass die Parteivorsitzende von beinahe 25 Prozent der Delegierten gestrichen worden war, waren die allermeisten wie von einer Keule getroffen.

Damit hatte nun wohl keiner gerechnet.

Gewiss, dass viele mit der Parteivorsitzenden unzufrieden waren, war klar. „Die kann es nicht“, das ist einer dieser Sätze, die sich manche fast schon routinemäßig zuraunen. Einige würden sich wünschen, dass Pamela Rendi-Wagner häufiger bei Landesparteichefs oder wichtigen Bürgermeistern anruft, oder sie werfen ihr vor, dass sie an ihrem Bundesgeschäftsführer festhält. Wieder andere sind auf irgendetwas anderes sauer, was gar nichts mit der Parteivorsitzenden zu tun hat, kühlen aber an ihr ihr Mütchen, weil irgendjemanden muss man es halt mal „zeigen“.

Aber eine Prise von der faden, alten Parteidisziplin hatten die meisten fix erwartet. Denn was hat man denn davon, wenn man die eigene Frontperson beschädigt? Wochenlange Schlagzeilen, eine Partei, die sich selbst ohne Not zum negativen „Sommerthema“ macht. Ersatzperson hat sowieso niemand eine in der Tasche. Die Eigentorjäger weiterlesen

Identität, nein danke

Der große karibisch-britische Kulturtheoretiker Stuart Hall in posthumen Schriften und seiner atemberaubenden Autobiografie.

Eine der seltsamen Eigenschaften unserer Zeit ist, dass umso mehr von „kultureller Identität“ die Rede ist, je weniger es davon gibt. Die radikalen Rechten wollen explizit die „Kulturen“ auseinanderhalten, linke Identitätspolitik hält eine Äußerung für unangreifbar, sobald sie etwa vom Standpunkt einer diskriminierten Identität aus geäußert wird. Beide tappen in die Falle eines Identitätsbegriffes, „der dazu neigt, die Verbundenheiten mit den Ursprüngen besonders zu betonen und Kontinuität, Beständigkeit und unveränderliche Verwurzelung unterstellt“. So formuliert das Stuart Hall, der große jamaikanisch-britische Kulturtheoretiker in seinen Lebenserinnerungen. „Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln“. 82jährig ist Hall vor sechs Jahren verstorben, die Autobiografie ist posthum im Frühjahr erschienen, ebenso wie der Essayband „Das verhängnisvolle Dreieck“, im Vorjahr bei Suhrkamp aufgelegt. Identität, nein danke weiterlesen

„Koste es, was es wolle“

Der Staat als zentraler Wirtschaftsakteur, Defizite, die niemanden kümmern und billiges Geld, das unbegrenzt zur Verfügung steht – ist das schon das Ende des Neoliberalismus? „Change is coming“ proklamiert jetzt sogar der „Economist“.

Falter, Oktober 2020

Überall bricht die Nachfrage ein, weil in der Hochphase der Pandemie Teile der Wirtschaft abgeschaltet wurden, aber vorranging deshalb, weil die Menschen einfach ihr Geld nicht ausgeben. Weil sie nicht ausgehen, weil sie nicht verreisen, weil der Tourismus brach liegt; es reißen auch Lieferketten ab, weil Produktion ausfällt und Logistikunternehmen an geschlossenen Grenzen hängen bleiben. Die Konsumnachfrage ging in den Hochphasen des Infektionsgeschehens um 25 bis 30 Prozent zurück, und zwar relativ unabhängig davon, ob ein Land einen strengen Lockdown verhängte (wie etwa Dänemark) oder eher lässigere Regeln praktizierte (wie etwa Schweden). Unternehmen investieren logischerweise nicht, fahren ihre Produktionskapazitäten zurück.

Jetzt rollt langsam die Insolvenzwelle an. Konzerne streichen hunderte Arbeitsplätze, schließen Produktionsstandorte. Viele gehen unter. Es droht der Verlust von tausenden Unternehmen und Massenarbeitslosigkeit, die dann erst Recht eine Abwärtsspirale und Dominoeffekte von bisher kaum gekanntem Ausmaß in Gang setzen werden – wenn die Regierungen nicht viel entschlossener als bisher dem entgegen treten werden: mit Direkthilfen für Unternehmen (und nicht nur mit Stundungen von Steuer- und Sozialversicherungskosten), mit Rekapitalisierung insolventer Unternehmen, mit Verstaatlichungen und massiven öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, staatliche Dienstleistungen, Digitalisierung und ökologische Transformation.

Das wird seine Auswirkungen haben: Das neoliberale Grundparadigma, dass sich der Staat in die Wirtschaft nicht einmischen solle, wird endgültig auf der Giftmülldeponie der Ideologiegeschichte endgelagert. Letztendlich ist dieses Postulat schon in der Finanzkrise schwer ins Wanken geraten. Erstens, weil deregulierte Finanzmärkte, weit davon entfernt, für eine „effiziente Allokation“ des Kapitals zu sorgen, den globalen Kapitalismus an den Rand des Kollaps gebracht hatten, zweitens, weil die Finanzinstitutionen von den Staaten gerettet werden mussten, drittens, weil überall mit Konjunkturprogrammen, mit staatlich finanzierter Kurzarbeit und anderen Maßnahmen die Wirtschaft wieder angekurbelt werden musste. Aber es war kein vollständiger Untergang der wirtschaftsliberalen Irrlehre. „Koste es, was es wolle“ weiterlesen

Denkmalsturz

Arbeit am nationalen Gedächtnis, oder: Wie kann man mit Fingerspitzengefühl einen Vorschlaghammer bedienen?

Falter, Juni 2020

Wenn Revolutionen aufbrausen, dann fallen immer auch die Denkmäler, und das ist auch gut so. Hitler-Plätze gibt es in unseren Städten keine mehr und in den vergangenen dreißig Jahren sahen wir überall Statuen wackeln und dann kippen: Lenin-Statuen, die letzten Stalin-Denkmäler, auch die grobkornigen Bilder des kippenden Saddam-Hussein-Standbildes haben viele von uns noch vor Augen.

Ganz ähnlich erging es jetzt auch dem reichen Sklavenhändler aus Bristol, den eine Menge bei einer Antirassismus-Demonstration vom Sockel holte und ins Meer warf. Vandalismus? Hätte man alle Standbilder stehen gelassen, die jemals errichtet wurden, in unseren Städten stünden viele finstere Gesellen herum. Spontaner Volkszorn, der Verbrecher vom Sockel holt – er hat sowieso seine eigene politische Energie und sein eigenes Recht.

Freilich: In unseren Städten stehen genügend Denkmäler herum, die wir heute so nicht mehr errichten würden. Reiter- und Kriegerdenkmäler irgendwelcher Aristokraten und Heerführer, scheinbar unschuldige Standbilder unserer großen geistigen Vorväter, Leute mit zweifelhafter historischer Bilanz von Karl Lueger bis Che Guevara. Denkmalsturz weiterlesen