der rote faden, meine Kolumne aus der taz. 28. 3. 2020
In dieser für alle schweren Zeit wollen wir mit etwas Leichteren beginnen, mit der Mode und zeitgenössischen Schönheitsidealen. Schlankheit ist ja eines der vorherrschenden Schönheitsideale. Bei Frauen: dieser anorexische Kate-Moss-Typ mit dem verschleierten Blick. Aber auch bei Männern: dieses Dürre, Schlaksige, Verhuschte, der halbverhungerte Künstlertyp mit Blick ins Leere und verwuschelter Frisur. Es sind diese Typologien, die wir in jedem Modemagazin finden.
Skurrilerweise gehen sie auf das Wüten der Tuberkulose zurück, eine der schlimmsten, tödlichsten Epidemien, die aber anders als die Pest oder die Pocken nicht zu schnellem, sondern schleichenden Tod führten, und deren Symptome auch nicht so äußerlich entstellend waren – so dass die Tuberkulose nicht nur als Terror im kulturellen Gedächtnis blieb. Sie traf viele Menschen in ihrer Blüte, machte vor wohlsituierten Menschen nicht halt und wurde als Künstlerkrankheit sogar romantisiert und ästhetisiert. Wer von ihr befallen war, verschwand allmählich, verfiel ins Geisterhafte. So prägte sie das kulturelle Gedächtnis.
Epidemien und Pandemien können den Lauf der Geschichte beeinflussen, im Großen und im Kleinen. Sie können zu Mentalitätswandel beitragen. Ratten empfinden die meisten von uns immer noch als unsympathische Tiere, die nette, kochende Ratte im Zeichentrickfilm „Ratatouille“ bleibt da eine Sonderfall, genauso wie die einstige Mode der Punks, sich Ratten zu halten. Vielleicht haben sich die Punks ja nur Ratten gehalten, weil die Ratten so „außerhalb der Gesellschaft“ standen, wie das die Punks auch gerne wollten. Und das hat natürlich mit den Ratten als Wirttiere jener Flöhe zu tun, die die Pest übertrugen. Übrigens, keine Sorge: die heute bei uns heimischen Ratten sind antisoziale Tiere und daher als Krankheitsüberträger unwahrscheinlich. Die zutraulichereren, und daher gefährlichen alten Pest-Ratten wurden von den heute heimischen Ratten ausgerottet.
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Frank M. Snowden, ein amerikanischer Wissenschaftler, hat ein grandioses Buch über die Bedeutung von Seuchen für die gesellschaftliche Entwicklung geschrieben: „Epidemics and Society“
Epidemien haben ganz ambivalente Auswirkungen. Sie sind nicht gerade eine Schule der Solidarität. Auch wenn wir jetzt alle versuchen, unseren Nachbarn beim Einkauf zu helfen und wenn die systemrelevanten Arbeitnehmer, von den Verkäuferinnen im Supermarkt, von den Pflegediensten, bis zu den LKW-Fahrern, Ärztinnen und Hilfsorganisationen jetzt die wirklichen Helden sind – ganz generell spornen Epidemien nicht dazu an, dem Nächsten beizustehen. Der ist nämlich ansteckend, ergo: potentiell tödlich. Wenn einer hustet, sucht man das Weite. Es gibt Katastrophen, bei denen solidarisches Handeln leichter fällt – bei Erdbeben kann man Leute bei sich zu Hause aufnehmen.
Aber Pandemien sind sehr wohl auch Motor solidarischer Gesellschaften und des gesellschaftlichen Fortschrittes. Ordentliche Wohnungen, ein Gesundheitssystem, zu dem alle Zugang haben, Wasser- und Abwassersysteme sie sind historisch eine Folge von Epidemien. Denn auch die Reichen haben verstanden, dass sie nur sicher sind, wenn auch die Schwächsten sicher sind. Ein Gesundheitssystem, das nur für die Reichen funktioniert, funktioniert für niemanden – das haben Pandemien gelehrt. „Die Kapitalistenherrschaft kann nicht ungestraft sich das Vergnügen erlauben, epidemische Krankheiten unter der Arbeiterklasse zu erzeugen; die Folgen fallen auf sie selbst zurück, und der Würgengel wütet unter den Kapitalisten ebenso rücksichtslos wie unter den Arbeitern“, das wusste Friedrich Engels schon vor 150 Jahren.
Manche erleben auch leise Panik. Aber normalerweise verstehen wir unter Panik, dass Leute hell aufgeregt kopflos herum laufen. Kommt eher selten vor. Man sitzt zu Hause und es flattern allenfalls die Nerven. Gibt es so etwas wie stoische Panik?
Der Neoliberalismus mit seiner Marktgläubigkeit und seiner Staatsverachtung hat für das erste ausgedient. Dafür drohen andere Gefahren. Pandemien waren immer schon gute Gelegenheiten, harsche obrigkeitsstaatliche Maßnahmen zu verhängen. Notfallmaßnahmen sind die am meisten missbrauchten Gesetze in der Politik. Was aber nicht heißt, dass der Notfall nicht existiert. Der Notfall existiert, und deshalb erlaubt er, Regelwerke zu verabschieden, die sonst nie akzeptiert würden. Wohl auch bei uns wären die Bürgerinnen und Bürger jetzt davon überzeugbar, Tracking-Software China-Style auf ihre Handys zu laden. Auch in Demokratien sind Ausnahmezustände wie diese die Stunde der Exekutive, und man braucht schon wirkliche Vollblut-Demokraten an der Regierungsspitze, dass die nicht in Versuchung kommen, diese zu missbrauchen.