Schocktherapie

Nur mit gemäßigten Aktionen kann man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht.

Meine Schlagloch-Kolumne aus der taz vom Dezember

Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der „abstrakte Expressionismus“ als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop-Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warholls Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben. Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht einmal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schock-Strategien der Aktionskunst. „All Art ist Propaganda“, bemerkte schon George Orwell und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so irgendwie.

Natürlich kann man gegen die Attacken gegen Kunstwerke einiges einwenden, obwohl natürlich nicht Kunstwerke zerstört werden, sondern bisher vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befinden. Ein Einwand wäre: Sie zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, das ohnehin knapp ist, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich ja nicht nur irgendwelchen Spießern auf, die sowieso keine Protestaktionen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens so eine Spur einer kausalen Assoziationskette kann sicherlich nicht schaden.

Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. Schocktherapie weiterlesen

Eine Krise der Kritik

Wenn radikale Rechte und Verschwörungstheoretiker Systemkritik und Fanatismus paaren, können Linke in die Affirmationsfalle stolpern.

Das Schlagloch, August 2022

Der Systemkritiker hat die Eliten und ihrer Herrscher-Netzwerke unter Generalverdacht, und er macht sich, von diesem Verdacht ausgehend, auf Entdeckungstour. Er recherchiert, stöbert in den unterdrückten Nachrichten, kommt unbekannten Verbindungen auf die Spur, verdeckten Geheimnissen, über die man in den Konzernmedien der herrschenden Mächte niemals lesen würde. Er sieht, wie das alles zusammenhängt, wie die Etablierten ihre Macht absichern, die normalen Menschen ausbeuten, er entschließt sich, Widerstand zu leisten und ihre Machenschaften aufzudecken. Der Systemkritiker ist erregt ob seiner Entdeckungen, fühlt sich aber auch erhaben, weil er ein Wissen hat, das die anderen nicht haben, die Angepassten, die von der Macht gegängelt sind, die in einem raffinierten Kokon von Komplizenschaft gefangen sind, der die Unterdrückten noch zu Kumpanen ihrer eigenen Unterdrückung macht. Ein bisschen ist der Systemkritiker wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äußerst lustvolle Tätigkeit. Dass die Täter unentdeckt bleiben, ist übrigens gänzlich ausgeschlossen, was ein glückliches Ende der Unternehmung von vorneherein garantiert. Die Täter werden immer entlarvt, und es sind nicht zu wenige, mal heißen sie Merkel, mal Scholz, mal Gates und immer Soros. Die aktiveren Gesellen unter den Systemkritikern gründen Anti-Mainstream-Medien, in denen all die Stimmen und Fakten ausgebreitet werden, die die herrschende Macht zu unterdrücken versucht.

Krise und Kritik sind eng miteinander verbunden, das wissen schon die Etymologen, die gerne auf den gemeinsamen Wortstamm der beiden Begriffe hinweisen, auf das griechische Krisis, was so viel wie „unterscheiden“, „trennen“ aber auch „zuspitzen“ heißen kann. Philologie beiseite: Erstens, Kritik ist sowieso immer gut und wichtig. Zweitens: In der Krise ist die Kritik besonders notwendig. Denn drittens: Eine Krise wird nur überwunden werden, wenn kritikwürdige Umstände dem Säurebad der Subversion ausgesetzt werden. Kritik ist aber nicht nur die Antwort auf die Krise, sondern kann selbst in die Krise geraten, und dann haben wir: Die Krise der Kritik. Eine Krise der Kritik weiterlesen

Eine Ära der Konterrevolution

Von Putin bis zum US-Höchstgericht: Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren zurückzudrehen.

taz, Juli 2022

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt.

Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit mir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe.

Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Angst macht sich breit. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik und Gereiztheit ein, plus: Hilflosigkeit. Diese Angst lähmt, gerade in eine Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

Scheißzeit.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den vergangenen fünfzig, sechzig Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer – aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die auch nicht einfach so geschieht, sondern von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also. Eine Ära der Konterrevolution weiterlesen

„No Pasaran“ oder „die Waffen nieder“?

Meine taz-Kolumne vom März 2022

Der vierundzwanzigste Februar hat die ganze Existenz verdüstert. Gut, mögen sie jetzt einwenden, diese war auch vorher nicht besonders sonnig, an den Peripherien jenseits unserer vielgepriesenen „Friedensordnung“ waren Gewalt, Massenmord, Krieg, Elend und Instabilität Alltag. Alles wahr, ändert aber dann doch nichts daran, dass wir anderntags in einer neuen Welt und einer neuen Existenz aufgewacht sind. Mit Meinungen und Emotionen, die sich dauernd widersprechen und sich wechselseitig ins Wort fallen.

Ein paar Sachen sind klar: Ein sadistischer Tyrann und seine Kamarilla haben beschlossen, ein unabhängiges, demokratisches Land zu überfallen. Die eine Seite hat von Grozny bis Aleppo schon bewiesen, was sie bereit ist, anzurichten, ist überdies eine waffenstrotzende Atommacht, die andere Seite ist überfallen worden und wird bombardiert, während die Bürger und Bürgerinnen in den Kellern zittern. Putin senkt über die Bürger*innen Russlands selbst eine Despotie hinab, die die letzten Halme von Freiheit zertritt. „Both Sides“ können sich die Schlaumeier da sonstwohin stecken.

Der Zufall wollte es, dass ich diese Woche Konstantin Wecker zu einem lange geplanten TV-Talk in Bruno Kreiskys Wohnzimmer empfangen konnte, den Poeten und Liedermacher und Friedensbewegungsveteranen. Die einen singen seine Lieder mit feuchten Augen mit, kennen jede Zeile, andere halten ihn für eine naive Kitschschleuder, tut hier aber gerade nichts zur Sache. Kürzlich hat er eine neue Platte rausgebracht, „Utopia“ heißt sie, der Name selbst ist natürlich schon Programm, und der Titelsong beginnt mit diesen Zeilen: „Stellt Euch einmal unsere Welt vor / Ohne Krieg ohne Gewalt.“

Das ist der pazifistische Traum, aber natürlich sind die meisten Linken da sowieso nie konsequent gewesen. Man konnte an einem Tag „Die Waffen nieder!“ skandieren, und am nächsten linken Guerilleros die Daumen drücken, die gegen Diktatoren kämpften und „No Pasaran“ brüllen.

Wer überfallen wird, muss und soll sich wehren können. Wahnsinnige oder auch zynisch-rationale Aggressoren und Diktatoren kriegt man nicht durch gutes Zureden zur Vernunft, aber zugleich gerät man dann so leicht in ein Fahrwasser, in dem nur mehr die militärische Lösung zählt, die Logik der Militarisierung. „No Pasaran“ oder „die Waffen nieder“? weiterlesen

Meinungsfreiheit und Faktenfreiheit

Es ist Realitätsflucht, mit Fakten so umzugehen, als handele es sich um Meinungen.

John Maynard Keynes, dem legendären Ökonomen, wurde gelegentlich vorgeworfen, er sei ein Flip-Flopper, der mal das, mal jenes vertrete. Sein Konter ist bis heute berühmt: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Was würden Sie tun?“ Die Botschaft: Wer seine Haltungen überprüft, wenn die Umstände sich ändern, ist klug. Wer stur bei seinem Standpunkt bleibt, ist ein Trottel.

Die Meinungshaberei steht heute hoch im Kurs, ganze Berufsgruppen leben von der Meinung. Autor*innen von Kommentaren wie diesem sind in der Meinungsbranche aktiv, und besonders beliebt sind die meinungsstarken Meinungen, bei denen man sich aufregen kann, wenn man eine andere Meinung hat. Das Meinungshaben ist Teil der Erregungskultur, des Entertainments und der Social-Media-Blödmaschinerie. Im Fernsehen kommen dauernd Leute vor, die eine Meinung haben. Talentarme Autor*innen können ihre Bekanntheit schneller steigern, indem sie besonders durchgeknallte Meinungen äußern. Das Verhältnis von Fakten und Meinungen ist prekär. Hannah Arendt hat es eine der Erscheinungsformen von „Realitätsflucht“ bezeichnet, „mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen“. Meinungsfreiheit und Faktenfreiheit weiterlesen

Rücktritt auf Raten

Der demontierte Ex-Kanzler sitzt als Klubchef im Parlament und sinnt auf Revanche. Wie soll da noch regiert werden können?

Mein Leitartikel in die tageszeitung, Berlin

Noch am Vortag hatten die Parteigranden und Minister der Volkspartei peinliche Treuebekundungen und Durchhaltepamphlete unterschrieben, doch am Samstag Abend war Sebastian Kurz dann nicht mehr zu halten. Der einstige Strahlemann trat als Bundeskanzler zurück, um seiner Partei die Regierungsführung und die Koalition mit den Grünen zu retten und will sich jetzt auf die Rolle des Fraktionsvorsitzenden im Parlament zurückziehen.

Es ist die Flucht aus dem Amt in ein anderes, um den völligen Untergang doch noch vermeiden zu können.

Sebastian Kurz sitzt jetzt im Fraktionsvorsitz um hier die Korruptionsermittlungen gegen ihn und seine sinistren Netzwerke auszusitzen und irgendwann als Kanzler wieder zu kommen. Heute liegt schon genug am Tisch, die Chats, die er mit seinen Günstlingen austauschte, offenbaren einen Abgrund an Niedertracht und Staatsfeindschaft und schierer krimineller Energie. Kurz ist Beschuldigter in verschiedenen Verfahren, bei denen es mittlerweile auch um Untreue und Bestechlichkeit geht.

Wie soll da eine Regierung arbeiten können, mit einem Strohmann, den der Pate nach Mafiaart im Kanzleramt installiert? Wie soll der Staat überhaupt noch funktionieren, wenn ein als Kanzler Demontierter im Fraktionsvorsitz verbleibt, und hier auf Rache und Revanche sinnt, nicht zuletzt gegenüber dem grünen Koalitionspartner? Kurz versucht, die Fäden in den Händen zu behalten. Rücktritt auf Raten weiterlesen

Aufreizende Vertrotteltheit

Das System Kurz: Gigantomanisches Selbstbild des Anführers, der Führerkult der Günstlinge und kriminelle Energie der gesamten Bande.

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz, Oktober 2021

Manche Leute haben Pech beim Denken. Christoph Ploß, der Hamburger CDU-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete, pries gerade im ARD-Fernsehen Sebastian Kurz und seine ÖVP als leuchtendes Vorbild für die Union an. Richtung „rohe Bürgerlichkeit“ habe es zu gehen. Pech für Ploß, dass Sebastian Kurz‘ Herrschaft nun wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Die nächsten Tage wird er kaum mehr überstehen.

Mittwoch wurden wir mit der Schlagzeile vom Frühstück hochgeschreckt, dass gerade Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt und in der ÖVP-Zentrale stattfänden. Klar, wir Ösistaner*innen heben bei solchen Nachrichten gerade noch die Augenbrauen. Ein gewisser Gewöhnungseffekt lässt sich nicht leugnen.

Mittlerweile ist Sebastian Kurz in einigen unterschiedlichen – aber miteinander verbundenen – Verfahren als Beschuldigter geführt, die Delikte, deretwegen gegen ihn ermittelt wird, reichen von falscher Zeugenaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nun auch über Beihilfe zur Bestechlichkeit bis zur Untreue. Für die „Zerstörung der ÖVP“ braucht es bei uns keinen Rezo, das erledigt schon Sebastian Kurz selbst. Der hat auch die Haare schön. Aufreizende Vertrotteltheit weiterlesen

Das Orakel von Germany

Die Sozialdemokraten haben diese Wahl gewonnen, und zwar gar nicht so undeutlich. Gemessen an der Ausgangslage ist das ein mittelmäßiges Wahlwunder.

taz, Oktober 2021

Zu den paradoxen Charakteristika unserer Zeit zählt: Je bedrohlicher die Lage und umso verunsichernder die Polykrisen sind (Corona, Wirtschaft, Klimakatastrophe), desto zentraler wird das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Eigentlich braucht es radikale Änderungen, aber gerade deshalb ist es verständlich, dass die Bürger und Bürgerinnen beim Wählen vorsichtig sind, denn wer will schon riskante Experimente, wenn sowieso schon überall alles kracht und kollabiert? Wer etwas verändern will, muss zugleich versprechen, dass alles schon ganz gemäßigt und solide angegangen werde. Auch das ist eine Lehre des deutschen Wahlsonntags.

Die SPD hat gewonnen, aber nicht triumphal. Die Union ist gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen. Auch sonst blieb alles im Rahmen, und bei der berühmten Links-Rechts-Achse steht es eher Fifty-Fifty. Die Wähler haben gesprochen, aber was wollen sie uns sagen damit?

Zunächst: Die Sozialdemokraten haben diese Wahl gewonnen, und zwar gar nicht so undeutlich. Schließlich liegen sie nicht nur knapp 1,6 Prozentpunkte vor der Union, die Union hat rund zehn Prozentpunkte verloren, die SPD fünf gewonnen, und nimmt man die Umfragen der vergangenen Jahre, hat sie sogar zehn Punkte zugelegt. Gemessen an der Ausgangslage ist das ein mittelmäßiges Wahlwunder.

Es wäre zu billig, das alleine auf Zufälle oder auf Personen zu reduzieren. Was heißt denn „Sozialdemokratie“ für den Großteil der Wähler und Wählerinnen? Auf Seite der normalen Leute stehen, für die Arbeiter sein, dafür sorgen, dass es gerecht zu geht, garniert mit etwas gesellschaftspolitischer Modernisierung. Wenn Sozialdemokraten nur ein wenig den Eindruck erwecken, in diesen Hinsichten ein wenig glaubwürdiger zu werden, dann werden sie zur Zeit gewählt. Die Deutung, dass die SPD bloß einen guten Wahlkampf gemacht habe, die Union eben einen schlechten, greift schon etwas gar kurz. Olaf Scholz ist maßvoll, aber markant nach links gerückt, der „linke“ und der „rechte“ Flügel der Partei zog an einem Strang, mit den Botschaften „Mindestlohn“, „Respekt“ und ein „investierender Staat“ gab es ein kongruentes Bild, das die SPD zeichnete, mit dem sie sogar ihr Hartz-IV-Trauma vergessen machte. Der Kandidat verkörperte die Botschaft: Scholz kann’s, der wird das solide machen. Das Orakel von Germany weiterlesen

Plumpes Denken ist das Denken der Großen

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz

Es sind ja gerade Olympische Sommerspiele, und ich muss eingestehen, dass mich diese Tatsache nicht sonderlich elektrisiert, das liegt aber an Sportarten wie Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf. So erfuhr ich von der Existenz Anna Kiesenhofers und ihrem fulminanten Ritt zum Olympiagold im Fahrrad-Straßenrennen erst, nachdem es schon – nunja, die Metapher hinkt etwas – „gelaufen“ war. Kiesenhofer ist eine 30jährige Frau aus Niederösterreich, die schon eine extrem bemerkenswerte Person ist. Wahrscheinlich ist sie auch ein wenig ein Nerd. Kiesenhofer fährt in keinem Team, hat keinen Coach, ist im allerengsten Sinne eine „Amateursportlerin“, sie fährt noch nicht einmal bei internationalen Rennen mit, weil sie sich das ohne Sponsoren wohl auch gar nicht so leicht leisten könnte. Daher hatten sie ihre Konkurrentinnen auch nicht am Zettel, denn sie kannten sie schlichtweg nicht. Kiesenhofer fuhr bei dem Rennen zunächst im Führungspulk, setzte sich dann aber sehr schnell ab, eilte allein davon und fuhr den Sieg heim. Das hatte sie wahrscheinlich alles penibel berechnet, denn in ihrem anderen Leben ist sie Spitzenmathematikerin, beschäftigt sich mit undurchschaubaren Differentialgleichungen, bei denen wir Durchschnittsleute wohl nicht einmal die Fragestellung verstehen würden. Sie hat an der Technischen Universität studiert, in Cambridge und Barcelona Master und PhD gesammelt und forscht und unterrichtet gegenwärtig in Lausanne. Sie gibt auf Englisch phantastisch gute und sympathische Interviews. Die Frage, wie sie ihren Triumph jetzt feiern werde, beantwortet Frau Doktor Kiesenhofer lachend mit dem Hinweis, dass sie sich jetzt in Niederösterreich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer intensiv auf die Vorlesungen des Herbstes vorbereiten müsse, da sie im Vorfeld zu Olympia dafür ja keine Zeit hatte. Plumpes Denken ist das Denken der Großen weiterlesen

Genie und Verbrechen

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz.

Wir haben jetzt seit 15 Monaten unsere Zeit abgesessen – und schon dieses „wir“ ist ein sehr fragwürdiges. Aber die meisten von uns hatten wenigstens leere Abende, und es ist ganz okay, wenn Sie diese Zeit nicht zur Selbstoptimierung genützt haben. Wir machen uns doch sowieso genug Druck.

Ich habe versucht, ein paar Bildungslücken zu schließen, mich ein bisschen der Literatur von Spätromantik bis klassischer Moderne zu widmen, habe mal wieder Heines Gesamtwerk durchgepaukt, Balzac, Baudelaire, Flaubert und André Gide und einiges mehr gelesen.

Gräbt man sich durch diese Epochen, dann kann man gut und gern ein Jahr verbringen, in dem man nur Texte von reichen weißen Männern liest. Im 19. Jahrhundert spielten Frauen die zweite Geige, ja, im allgemeinen waren sie chancenlos. Meist kreisten Frauen eher an der Peripherie der Szene, doch nur wenige schafften es (wie etwa George Sand), selbst ein Zentralgestirn der Kulturgeschichte zu werden. In Kunst oder Theorie zu Ruhm zu gelangen, setzte aber auch meist voraus, aus wohlhabendem Haus zu kommen. Von Marx bis Engels, von Karl Kraus bis zur gesamten Frankfurter Schule, von Friedrich Pollock über Horkheimer bis Adorno, niemand von denen hätte seine herausragenden kulturellen Leistungen erbringen können, wäre er nicht ökonomisch von daheim oder durch Gönner abgesichert gewesen. Es gibt ein paar vereinzelte Ausnahmen, aber unser kultureller Kanon bis weit ins 20. Jahrhundert wurde von Rich Boys verfertigt. Die Genialität der Genannten wird durch diese Feststellung nicht getrübt. Aber wer diese Absicherung nicht hatte, der konnte nichts werden. Werk und Biografie lassen sich insofern nicht trennen. Genie und Verbrechen weiterlesen

Die dreiste Lüge in der Politik

taz, der Rote Faden. April 2021

Ich erwarte keineswegs, dass Politiker und Politikerinnen immer die Wahrheit sagen. Damit meine ich nicht, dass ich hohe Amtspersonen für moralisch verkommen oder grundsätzlich für unehrlich halte. Ich meine nur, dass sie nicht immer die Wahrheit sagen können und dass das schon okay ist so. Denn vollkommene Ehrlichkeit kann negative Folgen haben. Wenn eine Bank oder ein Land finanziell konkursgefährdet sind, würde ein offenes, schonungslos realistisches Wort dazu führen, dass der Konkurs, der bis dahin nur eine Möglichkeit war, mit ziemlicher Sicherheit eintritt. Die „Wahrheit“ selbst hätte böse Effekte. Es ist ganz verständlich, dass man nicht in jeder Funktion alles sagen kann.

Wenn Politiker und Politikerinnen im Hintergrund in zähen Gesprächen Koalitionskonflikte zu beruhigen versuchen, werden sie gut daran tun, über diese Hintergrundgespräche zu schweigen oder, wenn sie auf diese angesprochen werden, irgendwie ausweichend herumzuschwurbeln.

Es ist dann vielleicht nicht okay völlig wahrheitswidrig zu lügen, aber es kann sehr wohl okay sein, nicht die ganze Wahrheit zu sagen.

Gewiss balanciere ich mit dieser Aussage auf sehr dünnem Eis. Berüchtigt ist die seinerzeitige Aussage des damaligen Innenministers Thomas de Maiziere, der – es ging um Terrorgefahr – meinte, ein Teil der „Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“. Sicherlich war diese Aussage noch einmal speziell blöde, da gerade diese Antwort die Bevölkerung besonders verunsicherte. Aber abgesehen davon: Wer entscheidet, mit welchen Antworten wir als Bürger und Bürgerinnen noch umgehen können, welche man aber von uns fern halten müsse? Aber zugleich ist natürlich auch wahr, dass „Verunsicherung“, wenn sie etwa zu Massenpanik führt, im Extremfall sogar gefährlicher sein kann als die Gefährdung selbst, über die man uns im Unklaren lässt. Die dreiste Lüge in der Politik weiterlesen

Toxische Egozentrik bis zur Gesprächsunfähigkeit

Narzissmus der kleinen Differenz, oder: Warum auch Knalltüten bei den Linken gerade jene, die eigentlich ihre Verbündeten sein sollten, wie Todfeinde bekämpfen.

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz.

Stellen wir uns einmal vor, nur so „for the sake of the argument“, ich wäre der Meinung, dass alle besonders diskriminierten Minderheiten ein Recht darauf haben, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden. Und stellen wir uns vor, Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, alle diskriminierten Minderheiten hätten ein Recht darauf, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden, wir sollten aber zugleich vermeiden, in die Falle der Fragmentierung zu tappen.

Stellen wir uns weiters vor, ich wäre der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun bevorzugt die Bühne bekommen und die anderen sollen jetzt einmal eine Zeit lang die Klappe halten. Und Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun auch eine Bühne bekommen, wir sollten aber immer auch darauf achten, Mehrheiten und Allianzen für gemeinsame Anliegen zu umwerben. Toxische Egozentrik bis zur Gesprächsunfähigkeit weiterlesen