Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz. August, 2019
Nach dem Massenmord eines weißen Rechtsextremisten in El Paso tauchte ein Manifest auf, das mit ziemlicher Sicherheit vom Täter stammt. Darin rattert er all die Ausrottungsphantasien runter, die von den Anhängern der „White Supremacy“ üblicherweise verbreitet werden und erklärt, warum er einen Anschlag auf Hispanics verübte. Bald wurde das Manifest in allen Medien analysiert und in den Social Media diskutiert. Und beinahe genauso schnell tauchte die Warnung auf, dieses Manifest doch bitte durch Berichterstattung nicht zu verbreiten.
Nun ist die Frage naheliegend, ob man nicht das Geschäft des Hass-Killers besorgt, indem man seine Hass-Theorien diskutiert – und ihnen damit genau die Öffentlichkeit gibt, die der Täter sich wünschte. Aber zugleich ist das eine zutiefst fragwürdige Position. Denn sie geht von der stillschweigenden Voraussetzung aus, dass irgendwelche imaginierten „normalen Leser“ mit der Drecksideologie infiziert werden könnten, wenn sie damit in Berührung kämen. Man müsse sie deshalb vor dieser Berührung schützen. Sehen wir einmal von dem Faktum ab, dass eine Person, die für die Glaubenssätze der „White Supremacy“ empfänglich ist, es sowieso selbst schaffen wird, den Text zu ergoogeln, steckt dahinter eine sehr seltsame Auffassung. Nämlich, dass die Menschen leider zu doof dafür seien, ihre eigenen Urteile treffen zu könnten. Dass sie, strunzdumm wie sie sind, die falschen Schlüsse aus einer solchen Lektüre ziehen könnten. Gelegentlich wird ja sogar gefordert, man möge solche Texte kritisch dekonstrieren, ohne auch nur Sätze aus den Dokumenten wieder zu geben. Also: Kritisieren, ohne den Leuten genau zu sagen, was kritisiert wird. Das hat einen gewissen Hautgout, da ja auch diejenigen, die die Texte einer kritischen Analyse unterziehen, die Texte gelesen haben. Die werden ja keineswegs dazu aufgefordert, solche Texte nicht zu lesen. Was aber nichts anderes heißt, als: Es gibt eine aufgeklärte, ungefährdete Minderheit, die den Text lesen darf, und dann eine große Masse der Dummchen, die von Lektüre bewahrt werden müssen. Was aber schon ziemlich hart an der Auffassung vorbei schrammt, dass für eine Kaste der eingeweihten Hohepriester eben andere Regeln gelten als für die große unaufgeklärte Masse.
Vollends skurril wird es, wenn diese Auffassung von jenen Menschen vertreten wird, die ansonsten sehr positiv der Tatsache gegenüber stehen, dass mit dem Strukturwandel von Öffentlichkeit die klassischen Medien ihre „Gatekeeperfunktion“ verlieren. Wie geht das aber mit der Idee zusammen, dass die „normalen Leute“ sehr wohl Gatekeeper brauchen, also Leute, die ihnen schädliche Nachrichten vorenthalten, weil sie diese falsch verstehen könnten?
Nur zur Klarstellung: Ich bin nicht der Meinung, dass man immer alles veröffentlichen soll. Und ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die vom extremistischen Pathos und seiner paranoiden Vorstellung, dass Massenmord eigentlich Notwehr sei, gefangen genommen werden könnten. Zugleich aber halte ich die reflexartige Gewissheit, man müsse die Normalos, diese zu Vorurteilen neigenden Ungebildeten, vor gefährlichen Ideen schützen, letztlich für paternalistische, arrogante und antiaufklärerische Kacke. Nach Abwägung aller Ambiguitäten scheint mir die Aufgabe der Idee, dass Menschen „mit Vernunft und Gewissen“ begabt (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) und deshalb zu eigenen Urteilen fähig seien, bei weitem die Fatalste aller Möglichkeiten zu sein.
Die Menschen sind mit Vernunft und Gewissen begabt, heißt es schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dass man die verführbare Masse vor schädlichen Informationen schützen müsse ist, paternalistische, antiaufklärerische Kacke.
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Jetzt noch den August überstehen und dann fängt die Wahlsaison an. Tja, und da gibt es auch hier hochrangige Politiker, die der Meinung sind, Deutschland drohe der „Volkstod“, und die die Idee verbreiten, dass Widerstandsnester geschaffen werden müssen, die „das inhumane Projekt einer Migrationsgesellschaft stoppen“. Wenn diese Widerstandsnester einmal stark genug seien, dann dürften sowohl die politischen Gegner als auch die völkisch Fremden in diesem Prozess einer ethnischen Säuberung nicht geschont werden. „Menschliche Härten“ und „wohltemperierte Grausamkeit“, seien dann leider nicht zu vermeiden. „Mit deutscher Unbedingtheit“, sei „die Sache gründlich und grundsätzlich anzupacken“, denn „wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen“.
Diese Sätze, die der Massenmörder von El Paso bestimmt gerne unterschrieben hätte, stammen von einem radikalen Anführer jener politischen Formation, der es demnächst gelingen könnte, in drei deutschen Bundesländern stärkste Partei zu werden. Ich neige der Idee zu, diese Mordphantasien gehören eher verbreitet als verschwiegen. Damit niemand mehr behaupten kann, er wüsste nicht, was er tut, wenn er für diese Bagage stimmt.