Flexibiliät, die schädlich ist

Was passiert genau, wenn die Ungleichheit wächst? James K. Galbraith hat die Auswirkungen auf die Ökonomie studiert. Falter, 31. Juli 2012
Vor zehn Jahren galt, wer sich für mehr Gleichheit einsetzte (oder umgekehrt die wachsende Ungleichheit beklagte), noch als hoffnungslos altlinks. Selbst die Sozialdemokraten der Blair- und Schröder-Jahre waren bereit, die angebliche soziale Funktionalität von Ungleichheit anzuerkennen. Heute ist das Pendel merklich zurück geschwungen. Nicht nur keynesianische Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman, Nouriel Roubini und andere identifizieren die Ungleichheit als entscheidende Quellen unserer ökonomischen Misere, selbst die Reports des Währungsfonds und der OECD blasen regelmäßig in dieses Horn und fragen besorgt, „was die Politik gegen wachsende Einkommensungleichheiten machen kann?“ Dass Ungleichheit nicht der Preis für Prosperität ist, sondern uns sehr viele Probleme einbrockt, das wird langsam schon der neue Common Sense. Gut so. 
Aber wie genau hängen wachsende Ungleichheiten mit geringerem Wirtschaftswachstum zusammen? Und wie mit finanzieller Instabilität? Das „Inequality Project“ der Universität Texas unter den Wirtschaftsprofessor James K. Galbraith studiert seit mittlerweile gut 15 Jahren den Grad an Ungleichheit, die Dynamik und die Ursachen seiner Veränderung und die ökonomischen Folgen, die Ungleichheit hat. Jetzt hat Galbraith ein ökonomisches Fachbuch herausgebracht, das wichtige Erkenntnisse zusammenfasst. 

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Die Occupy-Bibel

In einem grandiosen Sammelband bekundet Amerikas linksliberales Establishment der Occupy-Bewegung seine Referenz. Berliner Zeitung und Falter, Juli 2012
Ein dicker Wälzer mit demTitel „The Occupy Handbook“, da würde man sich hierzulande wohl eher eine Attac-Fibel vorstellen oder vielleicht gar eine Anleitung zum Aufbau von Zelten und der effektiven Veranstaltung von Straßenblockaden. Umso beeindruckender ist, was die amerikanische Autorin Janet Byrne zwischen zwei Buchdeckel gepackt hat. Aber der Reihe nach: Elektrisiert von der „Occupy“-Bewegung, hat Byrne einige Dutzend Autoren angeschrieben, und mitgemacht haben: Notenbanker-Legende Paul Volcker, Spitzenökonomen wie Paul Krugman, Kenneth Rogoff, Nouriel Roubini, Bradford DeLong, Raghuram Rajan, Clintons Arbeitsminister Robert Reich, Oberanarchist David Graeber, Autoren wie Barbara Ehrenreich und Chris Edges und der global einflussreichste Wirtschaftsjournalist, Martin Wolf von der Financial Times. Sie und viele andere sind mit großteils beeindruckenden Essays in dem 535-Seiten-Reader vertreten. 

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Dieses Gefühl der Unsicherheit

Wirtschaftskrise. Wie ein Gift frisst sich das
Unsicherheitsgefühl in unsere Gesellschaften. Jetzt sehen wir:
Sicherheitsgefühl macht nicht antriebslos. Im Gegenteil: Angst lähmt.
Falter, 11. Juli 2012

Wie wir zur „Sicherheit“ stehen, das hängt verdammt davon
ab, wie man fragt. Würden Sie das „Risiko“ der „Sicherheit“ vorziehen? Eher
nicht. Aber dafür die „Freiheit“ der „Sicherheit“? Womöglich schon. Wir haben
die Phrasen im Ohr, mit denen in den vergangenen Jahrzehnten von „Wirtschaftsvertretern“
gegen die „Vollkaskomentalität“ polemisiert wurde, gegen das Bedürfnis der
Bürger, in einen langweiligen Wattebauschen aus „Sicherheit“ gehüllt zu werden.
Aber das Sicherheitsbedürfnis des Spießbürgers wurde auch von den Punks verlacht
– Motto: „No Risk, no Fun“ -, wahrlich seltsame Allierte der Neoliberalen.

Nur: Über das Sicherheitsgefühl kann man herrlich spotten,
solange es in ausreichendem Maße vorhanden ist.

Aber seit dem Absturz in die Wirtschafts- und Finanzkrise
haben wir nicht nur ökonomische Probleme, das Gefühl der Unsicherheit frisst sich
in die Gesellschaften hinein. Ja, so ein eigentümliches Unsicherheitsgefühl,
das sich ausbreitet, in jeden Einzelnen hinein. Es wirkt wie eine tägliche
kleine Dosis Gift, sodass wir mit einem mal dauernd Leuten begegnen, die Angst
haben. Und wir lernen plötzlich wieder, dass Unsicherheitsgefühle Auswirkungen
auf das Verhalten von Menschen haben und damit wiederum ökonomische
Auswirkungen – dass das Gefühl von Unsicherheit sogar noch mehr Unsicherheit
produzieren kann.

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Das „Vertrauen der Märkte“ und andere Mythen

Zittern Sie auch vor einer Machtübernahmen der griechischen Syriza? Fürchten Sie sich auch vor der Inflation? Oder sind Sie ohnehin überzeugt vom notwendigen Systemkollaps? Ein paar populäre (Vor-)Urteile über die Finanzkrise, und was es mit ihnen auf sich hat. Eine etwas gekürzte Version dieses Fact-Checks erschien im Falter vom 13. Juni 2012

Vier Jahre ist sie jetzt schon alt, die Wirtschafts- und Finanzkrise, begonnen hat es mit einer Bankenkrise, dann ging es weiter mit einer schweren Rezession und stockender Erholung und, wie immer nach Bankenkrisen, mit einer Staatsschuldenkrise. Aber wie meist gibt es auch ein Gutes im Schlechten: Wir alle haben viel gelernt über die Wirtschaft und auch über makroökonomische Fachkategorien. Die Zeitungen sind voll mit Artikel, in denen Worte wie „Nachfrage“, „Leverage“, „Zinsspreads“ vorkommen, und verdammt viele Leute, die vor vier Jahren noch nicht mal diese Begriffe kannten, wissen heute, was es damit auf sich hat. Und noch etwas haben wir gelernt: Dass man simplen Parolen besser misstraut. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Heute spuken neue eingängige Thesen herum, die von vielen Leuten geglaubt werden, auf die man aber besser ein paar Minuten kritischen Nachdenkens verschwenden sollte. Was hat es also mit diesen populären (Vor-)Urteilen auf sich? 

„Alarm! Jetzt droht Inflation!“

„Inflations-Alarm! Bundesbank weicht den Euro auf!“ titelte vor ein paar Tagen die deutsche „Bild-Zeitung“. Und wie so oft schürt der Boulevard in diesem Fall nicht nur Ängste, sondern macht sie sich zunutze. Denn dass „unser Geld“ bald nichts mehr wert sein wird, das befürchten viele Menschen. Die Zentralbanken haben in den vergangenen Jahren den Markt mit Geld geflutet. Das heißt, sie haben den Banken sehr viel Geld geliehen, damit der Finanzkreislauf zwischen den Instituten nicht ins Stocken gerät, oder – wie zuletzt die Europäische Zentralbank -, damit die Banken Staatsanleihen europäischer Staaten kaufen. Und da denken viele: Wenn mehr Geld im Umlauf ist, dann gibt es automatisch Inflation. Schon kurz nach der Finanzkrise wurde vorhergesagt, dass Hyperinflation die große Gefahr ist. Spätestens 2010, 2011 würde sie beginnen, die galoppierende Geldentwertung, wurde prophezeit. Aber die angekündigte Hyperinflation kam nicht. Warum? Mehr Zentralbankgeld löst nicht automatisch Inflation aus. Es braucht dafür ein „inflationäres Klima“. Die Banken müssen mit dem Zentralbankgeld noch „mehr Geld“ produzieren, indem sie wie wild Kredite an Unternehmen vergeben. Das tun sie nur, wenn die Wirtschaft brummt, Unternehmen also investieren wollen. Aber auch das reicht nicht aus. Die Konsumenten müssen in bester Laune sein und ihr Geld mit beiden Händen ausgeben. Erst dann ziehen die Preise der Waren an. Mit den Preisen müssen die Gehälter mitziehen, damit die Menschen auch Geld genug in der Tasche haben, die teureren Güter auch zu kaufen. Löhne steigen aber nicht in einer Depression mit hoher Arbeitslosigkeit, sondern erst bei annähernder Vollbeschäftigung. Erst dann dreht sich die Lohn-Preis-Spirale und die Inflationsrate klettert hoch. „Aber halt! Die Preise steigen doch!“ mag man jetzt einwenden. Ja, aber das ist zum Großteil importierte Inflation, weil am Weltmarkt die Preise eines knappen Gutes steigen: Die Energie-, vor allem die Ölpreise. Aber das würden sie auch, wenn eine andere Geldpolitik gemacht würde. Das würden sie sogar, wenn es gar keine Krise geben hätte – dann würden sie womöglich sogar noch schneller steigen. Es ist fast ein bisschen kurios: Mitten in einer schweren Krise, mit Konjunktureinbrüchen und katastrophaler Jugendarbeitslosigkeit, machen sich manche Leute primär Sorgen um die Inflation – also und das so ziemlich einzige Problem, das wir im Augenblick nicht haben. Es kommt aber noch kurioser: Mancher Preisauftrieb, den die Bürger spüren, ist sogar die direkte Folge der Inflationsangst. Weil die Menschen Angst davor haben, dass ihr Erspartes an Wert verliert, investieren sie in scheinbar stabilere Anlagen – etwa in Immobilien. Deshalb steigen die Preise für Eigentumswohnungen und Häuser. Weil panische Vermögensbesitzer ihr Geld lieber in Beton als in Wertpapiere anlegen. 

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„Mit Schulden muss Schluss sein“

SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel über den umstrittenen Fiskalpakt, die Euro-Krise und die Frage, ob es den Sozialdemokraten heute an „Killerinstinkt“ fehlt. Falter, 5. Juni 2012
Sigmar Gabriel, 52, war Ministerpräsident in Niedersachsen, Umweltminister in der Großen Koalition und ist seit drei Jahren Parteivorsitzender der SPD. Die führt er allerdings in einer „Troika“, zu der auch Ex-Finanzminister Peer Steinbrück und der Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier zählen. Wer von ihnen nächstes Jahr als Kanzlerkandidat Angela Merkel herausfordert, wird demnächst von den dreien ausgepokert werden müssen. 
Nach dem Ausbruch der Finanzkrise hätte man eigentlich annehmen können, dass neoliberale und konservative Politik abgewirtschaftet haben. Stattdessen wurden aber vor allem Sozialdemokraten abgewählt. Woran lag’s?
Gabriel: Sie sind vor allem in jenen Ländern abgewählt worden, wo sie in der Regierung versuchen mussten, mit umstrittenen Maßnahmen ihre Länder vor dem Kollaps zu bewahren. Sie haben den Preis für unpopuläre Maßnahmen bezahlen müssen. Aber zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Sozialdemokraten in den vergangenen 15 Jahren den Marktradikalen zu viel nachgegeben haben. Wir sind in Teilen mitverantwortlich für die Deregulierung und Entfesselung der Finanzmärkte. Wenn wir heute sagen, wir haben aus den Fehlern gelernt und wollen zurück zu einer fairen Balance in den Marktwirtschaft, dann begegnet uns Skepsis. Es gibt keine Veranstaltung, bei der nicht ein Sozialdemokrat oder ein Gewerkschafter aufsteht und fragt: ‚Warum sollen wir Euch jetzt glauben?‘ Darüber hinaus gibt es eine so dramatisch gewachsene Enttäuschung über die Politik allgemein, dass sich die Menschen komplett abwenden. 

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Handbuch der Euro-Rettung

Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman liest den politischen Eliten die Leviten. Ihre Rezepte haben die Wirtschaftskrise verschärft. Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau / Der Falter, 12. Mai 2012
Tag um Tag trägt er in seinem Blog in der „New York Times“ seine Argumente vor, Woche für Woche erklärt er in seiner Kolumne, warum die Krisenlösungsstrategien der amerikanischen Regierung, vor allem aber der europäischen Eliten ins Desaster führen müssen: Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2008. Verallgemeinertes Sparen mitten in einer Wirtschaftskrise führt nur weiter ins Loch einer langandauernden Depression, ist mit millionenfachen menschlichem Leid verbunden, und wird auch noch an dem selbstgesteckten Ziel, nämlich der Haushaltskonsolidierung scheitern, weil die Schrumpfung der Wirtschaftsleistung keine sehr kluge Konsolidierungsstrategie ist. Das Desaster in Griechenland, aber auch in Spanien, in Irland und Portugal, liefert mittlerweile auch den empirischen Beweis: Austerität funktioniert nicht. Und seit vergangenem Sonntag wissen wir zudem, dass uns Europas Trümmer bald um die Ohren fliegen, wenn wir so weiter machen: die „Merkozy“-Suizidstrategie wurde von den Franzosen abgewählt, die Griechen haben gleich ihre gesamte alte politische Kaste abgeräumt. 

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Merkel zerzaust

Rot-Grün triumphiert bei den NRW-Wahlen. Wackelt jetzt auch die Kanzlerin? Falter, 16. Mai 2012
Erst kommt ihr in Frankreich Nicola Sarkozy abhanden, dann werden die „Radikalen Linken“ die eigentlichen Wahlgewinner in Griechenland und am Ende erkämpft Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die absolute Mehrheit, während ihre CDU ins Debakel schlittert. Es war keine gute Woche für Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin und mächtigste Frau Europas. 
Mit dem überragenden Wahlsieg von Hannelore Kraft im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland fühlt sich die deutsche Sozialdemokratie wieder im Aufwind – und ihr Parteichef Sigmar Gabriel sieht sich schon auf eine gesamteuropäischen Wendewoge surfen. Ein bisschen geflunkert ist das freilich schon, denn gar so einfach liegen die Dinge nicht. 
Angela Merkels Austeritätsdiktat für die Eurozone ist in Europa unpopulär, in Deutschland aber nicht. Dass die fleißigen Deutschen doch nicht der Zahlmeister für die faulen Südländer sein dürfen, dieses plumpe Argument verfängt in Deutschland immer noch. Das ist auch der Grund dafür, warum Gabriel und seine SPD nicht auf allzu harten Konfrontationskurs zur Bundesregierung gehen – sie glauben, für eine Abkehr von der Sparpolitik in Deutschland keine Mehrheit bekommen zu können. Deshalb tragen sie ihre Kritik in homöopatischen Dosen vor, nur erscheinen sie so eben auch nicht als fundamentale Alternative zur Merkel-Politik. Nicht zuletzt deshalb hatten sie bei vielen Wahlgängen in diesem Frühjahr Mobilisierungsprobleme. 
Hannelore Krafts Wahlsieg sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die SPD noch immer keinen Ausweg aus diesem Strategiedilemma gefunden hat. Krafts Sieg war tatsächlich in erster Linie Krafts Sieg. Linke und FDP hatten die Rot-Grüne-Minderheitsregierung der populären Ministerpräsidentin über die Klinge springen lassen, die darauf folgenden Neuwahlen hat Kraft erwartungsgemäß gewonnen. Sie hat sich als Landesmutter und Kümmerin präsentiert. Deshalb hat sie gewonnen, und weniger wegen eines konzisen Alternativprogramms zur Merkel-Regierung. 
Kraft hat gewonnen, wie man so schön sagt, weil sie eine „normale Frau“ ist, die „nah bei den Leuten“ ist. Von den drei Kanzleraspiranten der SPD kann das keiner so leicht nachhüpfen. Ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen sieht die Sache jetzt am ehesten so aus: Merkels CDU/FDP-Koalition ist weit von einer Mehrheit entfernt, aber eine Mehrheit von Rot-Grün ist ebenfalls sehr wackelig. Gut möglich, dass sich dann als einzige Regierungsform eine Große Koalition mit Merkel als Kanzlerin ausgeht. Es sei denn, Gabriel wagt den Hasard: Eine Dreierkoalition von SPD, Grünen und Piraten. Angedeutet hat er diese Möglichkeit schon. Dann würden die Politfreibeuter, kaum dass sie den Bundestag geentert haben, auch schon auf die Kommandobrücke klettern. 

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Der Krieg der Ökonomen

Muss man nur die Märkte mit Unterwerfungsgesten beschwichtigen und ansonsten auf die Selbstheilungskräfte der Märkte vertrauen? Oder braucht es jetzt einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel? Bis zur Finanzkrise dominierten jahrzehntelang die neoliberalen Mehr-Markt-Fanatiker. Danach ist kein stabiler neuer Konsens entstanden, sondern Dissens. Über eine Wissenschaft, die oft von Scharlatanerie nicht so leicht zu unterscheiden ist. 
Die Ökonomie, sagt ein alter Witz, ist ja jene Wissenschaft, in der zwei Forscher den Nobelpreis dafür bekommen, dass sie das genaue Gegenteil herausgefunden haben. Oder anders gesagt: Sie ist jene Wissenschaft, in der jedes Jahr das exakte Gegenteil von dem richtig ist, was im Vorjahr richtig war. Das unterscheidet die Ökonomie von den exakten Wissenschaften wie Physik, Chemie oder Mathematik, aber noch nicht unbedingt von anderen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften wie Soziologie oder Philosophie. 
Bloß haben Soziologie und Philosophie auch nicht so direkten Einfluss auf die Politik. 
Ökonomen tendieren nicht nur dazu, der Politik zu sagen, was die „richtige“ Wirtschaftspolitik ist, ein scheinbarer Konsens unter den Ökonomen kann politische Meinungsbilder geradezu erzwingen, Meinungsbilder, die nur eine Art von Politik ermöglichen und eine andere Art von Politik völlig delegitimieren. 

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Sind wir eigentlich bereit für mehr Moral in der Politik?

Wir wollen Politiker, die moralisch sind, uns aber ja nicht mit Moral langweilen, die grade Michels sind, aber doch richtig ultracoole Typen. Eine Bastelanleitung.  
Der Falter, 28. März 2010
„In der Politik gibt es keine Menschen mit Moral.“ Wahrscheinlich würden in den meisten Demokratien des Westens (von anderen Regierungsformen ganz zu schweigen) die meisten Menschen diesen Satz unterschreiben; und in Österreich wahrscheinlich noch eine gehörige Prise mehr. Hier sind sich die Bürger ohnehin einig: Erstens, die meisten Politiker stehlen. Zweitens, wenn nicht, dann sind sie doch nur an ihrem persönlichen Fortkommen interessiert und dieses Interesse ist ihr eigentlicher Antrieb. Und, drittens, im allerbesten Fall sind sie blutleere und wertelose Pragmatiker.
Kurzum: Die Bürger sind in ihrer überwältigenden Mehrheit der Ansicht, dass die Moral aus der Politik emigriert ist. 
Und sie sind wohl in ähnlich überwältigender Mehrheit der Ansicht, dass es „wieder mehr Moral in der Politik“ braucht. 
Nun, all das wirkt so selbstverständlich, dass wir schnell zu dem Schluss kommen könnten: Es braucht mehr moralische Menschen in der Politik, und alles ist gut. 
Doch diese Einsicht wird sofort irritiert, wenn wir uns nur einen Augenblick vorstellen würden, ein Moralist, ein waschechter Moralist, der nicht nur ethische Werte „hat“ im Sinne eines privaten Besitztums, sondern der über diese Werte auch spricht, der ausdrückt, welche Werte ihn zu dieser Haltung in jener Sachfrage führen, würde sich in einer einigermaßen herausgehobenen Position in der Politik befinden.

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Warum ist er nicht mausetot, der Neoliberalismus, Herr Crouch?

Heute Abend habe ich im Wiener Kreisky-Forum Colin Crouch zu Gast. Zuvor hat er mir für den „Falter“ schon dieses Interview gegeben. Crouch, 67, hat mit dem schmalen Bändchen „Postdemokratie“ vor zwei Jahren das wohl meistrezipierte politikwissenschaftliche Buch der vergangenen Jahre geschrieben. Jetzt legte der britische Wissenschaftler ein neues Buch vor, das den hübschen Namen trägt: „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“. 
Wo erreiche ich Sie gerade? 
Crouch: In Italien. 
Da gibt es ja eine neue Regierung. Mario Monti, ein Technokrat. In Griechenland gibt es jetzt auch einen Technokraten an der Regierungsspitze. Ist das der neue Trend? Berlusconi war ja eines der Role-Models für Ihre Analyse von „Postdemokratie“, ist der unpolitische Technokrat jetzt das neue Modell?
Crouch: Es ist vielleicht eine Reaktion darauf. Berlusconi stieg in dem zerfallenden traditionellen Parteiensystem auf, dank seiner wirtschaftlichen Macht, dank seiner Medienmacht, er hat das System nur zu seinen eigenen Machenschaften ausgenützt. Das, was wir gerade erleben, ist der Versuch, die italienische Demokratie zu retten. 
Aber ist es nicht auch einfach so: Die normalen Bürger haben die traditionellen Parteien satt. Davon profitieren Leute wie Berlusconi, und nun ebenfalls ostentativ unpolitische Technokraten, die sagen: ‚Ich bin vertrauenswürdig, weil ich kein Politiker bin‘. 

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Religiöse Maskerade

Thumbnail image for Artwork Der Sitzende.JPGZehn Jahre 11. September. Religiöser Jargon lässt sich wieder prima benützen, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Falter, 7. September 2011

Ach, was war das im Rückblick für eine schöne Zeit vor dem 11. September 2001! Klar, es gab noch Religionen. Klar, es gab noch religiöse Menschen. Und klar, es gab auch politische Konstellationen, in denen Religion eine Rolle spielte: In Polen, wo die katholische Kirche eine bestimmende Kraft im antikommunistischen Widerstand war. Politische Evangelikale in den USA. Islamische Fundamentalisten, von Afghanistan bis Algerien. Aber es war nicht der große Trend. Der große Trend ging in Richtung Säkularisierung, oder zumindest war das Feld des Religiösen klar abgesteckt: Als private Sache des einzelnen Gläubigen. Die öffentliche Wirksamkeit des Religiösen schien seit Jahrzehnten abzunehmen. Selbst da, wo politische oder nationale Spannungen sich auch entlang religiöser Konfliktlinien sortierten, kam kaum jemand auf die Idee, sie zu religiösisieren. Nicht einmal im Nahostkonflikt war es üblich, den territorialen Streit zwischen Israelis und Palästinensern in übertriebenem Maße als jüdisch-muslimischen Konflikt zu interpretieren. Wo nationale und ethnische Spannungen im religiöser Maskerade ausgetragen wurden, gab es weltweites Kopfschütteln – etwa über die Katholiken und Protestanten in Nordirland. 

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