Nach dem grausamen Massaker der Hamas: Warum sind so viele Worte schal und voller falscher Phrasen?
Zackzack, Oktober 2023
Die Welt steht in Flammen, und alles ist falsch und richtig zugleich, alles voller falscher Wahrheiten und wahrer Falschheiten. Das grauenhafte Massaker der Hamas an mehr als 1400 Menschen, in der übergroßen Mehrheit Zivilisten, in der übergroßen Mehrzahl jüdische Israelis, ein auch nach Maßstäben von Kriegsverbrechen maßloses Verbrechen. Es ist unvergleichlich in seinem Ausmaß, unvergleichlich in Grausamkeit und Gnadenlosigkeit und unvergleichlich im Terror, den es verbreitet und bewirkt, also in der Angst und Panik, in die es eine ganze Gesellschaft versetzt, die sogenannten Unbeteiligten, die natürlich Beteiligte sind. Eine ganze Nation in Panik, in Schock und im Zustand allgegenwärtiger Bedrohungsgefühle. Richtig ist, dass es keinen Staat der Welt gibt, der nach einem solchen Geschehen auf eine massive militärische Antwort verzichten könnte. Massiv falsch, eine solche monströse Tat erklärend mit Unrecht, Leid, Unterdrückung und Herabsetzung zu „kontextualisieren“ (ganz zu schweigen von rechtfertigen), also durch das, was den Palästinensern in 75 Jahren Nahostkonflikt angetan wurde, widerfahren ist. Ebenso falsch ist zugleich, die Geschichte von Besatzung, Unrecht, Widerstand gegen dasselbe, von Terror, die Spirale von Gewalt und den Übergang von Gegnerschaft in Hass, die zertretenen Pflanzen von Hoffnung, diese ganzen Verworrenheiten der Geschichte nicht zu erwähnen. Geschehnisse wiederum, die alle Beteiligten mit Geschichte und Geschichten ausstatten, die jeweils andere Seite als die eigentlich Schuldigen anzusehen. Die Gräuel der Hamas machen die Kritik an Besatzung, Abschnürung und Siedlerradikalismus nicht falsch, genauso wie, umgekehrt, letztere die Gräuel der Hamas um nichts weniger widerwärtig machen. Wer hier aufzurechnen beginnt, hat schon verloren. Wer auch nur glaubt, damit auch nur ein wenig dieses Massaker rechtfertigen zu können, hat seinen moralischen Kompass verloren. Und umgekehrt. Und umgekehrt. Alles wahr und falsch zugleich und schal wie auch das Gegenteil.
Der Jargon des Antikolonialismus
Der Massenmord macht Benjamin Netanjahu, böser Geist der israelischen Innenpolitik seit 20 Jahren und Kraft der Zerstörung in Israel selbst, nicht zu einem engelsgleichen Unschuldslamm, als welches er sich gerne durch Meinungsmanipulation und Delegitimierung jeder Kritik hinstellt. Abstrus seine Versuche, jede Kritik an der rechtsradikalen Politik seiner Regierungen als „antisemitisch“ zu framen, aber nicht weniger abstrus, nein, noch abstruser, sind alle Versuche, mit Rhetoriken von „Antiimperialismus“ oder „Anti- oder Postkolonialismus“ die Blutorgien der Hamas irgendwie am Ende doch in nachvollziehbare Widerstandshandlungen geschundener, kolonisierter Seelen hinzubiegen. Letzteres zeigt, nebenbei, ein weiteres Mal wie problematisch die Schemata, der ganze Jargon und die Phrasen postkolonialer Theorie offenbar sind, wenn heutzutage sowohl Putin mit diesen Begrifflichkeiten operieren kann (der diese Rhetoriken klaut, um sich als Widerstandskämpfer gegen westliche Dominanz zu kostümieren), und auch islamistische Meuchelmörder diesen Jargon missbrauchen können. Falsch ist es, den Antisemitismus zu leugnen, den Hass, der Juden entgegenschlägt, ihn kleinzureden, ihn zu ignorieren, und genauso falsch ist, den Antisemitismusvorwurf zum billigen sprachpolizeilichen PR-Instrument zu verwandeln, mit dem jeder und jede moralisch erledigt wird, der die Dinge anders beurteilt als die rechtsradikalen israelischen Regierungsfunktionäre.
Dauernd ist man versucht „Ja“ und „Nein“ zugleich zu schreien. Sprechen über Israel weiterlesen