„Der übergeschnappte Lenin“

Vor 100 Jahren starb der Bolschewistenführer. Er gehört ins Museum der Altertümer, neben Spinnrad und bronzene Axt.

Ohne Lenin hätte es die Oktoberrevolution nicht gegeben. Es hätte die russische Revolutionspartei nicht gegeben, und 1917 nicht den voluntaristischen Zugriff nach der Staatsmacht. Es hätte dieses exemplarische Lehrstück nicht gegeben, das zum Prototyp jeder Art von „Revolution“ werden sollte.

Man kann auch sagen: Ohne Lenin wäre der Welt viel erspart geblieben. Auch der Kommunismus wird sich von Lenin so schnell nicht mehr erholen.

Dennoch gilt Lenin auch über die engsten Kreise sektiererischer Aufstandsromantiker hinaus noch bis heute als attraktive Figur, sogar als bewunderungswürdig. Terror, Erschießungspelotons, Diktatur – allenfalls den Umständen geschuldet. Lenin, in sanftes Licht gehüllt, Verkörperung eines Traums, der dann nur Stalins wegen im bösen Albtraum endete.

Exakt 100 Jahre ist es nun her, dass Wladimir Iljitsch Uljanow, Nom-de-Guerre „Lenin“ in Moskau gestorben ist. Da war er nach mehreren Schlaganfällen schon hinfällig und siech. „Der übergeschnappte Lenin“ weiterlesen

„Ungeziefer ausrotten“

Die Faschisierung schreitet in wahnwitzigem Tempo voran. Willkommen im Reanactment der 30er Jahre.

Zackzack, Dezember 2023

Wenn er zurückkomme, werden „die Globalisten rausgeworfen“, sagte Donald Trump unlängst bei einer Rede. „Wir versprechen euch, die Kommunisten, die Marxisten, die Faschisten und die linksradikalen Schurken auszurotten, die wie Ungeziefer in unserem Land leben und bei Wahlen lügen, stehlen und betrügen“. Der Gegner, der gefährlichste Gegner, gegenüber dem alles an Gegenwehr erlaubt sei, das sei „der innere Gegner“, hämmerte der faktisch unangefochtene Anführer der amerikanischen Konservativen und Rechten. Ein „Echo von Hitler und Mussolini“ sei das, so die einhellige Kommentierung, auch der politischen Mitte.

Nicht ausgeschlossen, dass dieser Wahnsinnige nächstes Jahr wieder US-Präsident wird.

Begeisterte Selbstradikalisierung

In Argentinien haben sie jetzt den „Libertären“ Javier Milei mit erschütternden 56 Prozent der Wählerstimmen zum Präsidenten gewählt, einen ultraradikalen Schreihals, der nicht für einen schlanken Staat eintritt, sondern für die Zerstörung aller staatlichen Institutionen, der sich als „Anarchokapitalist“ versteht und die gelb-schwarze Fahne schwenkt. Gelb steht für Gold, also den Reichtum eines entfesselten Kapitalismus, Schwarz für die Anarchie. Milei will das Gemeinwesen von allen Ministerien befreien, den Dollar als Landeswährung einführen, die Zentralbank abschaffen, er redet viel von Freiheit, will aber zugleich die Abtreibung verbieten, und den Papst nennt er einen „dreckigen Linken“. An seiner Seite hat der Exzentriker die Fans der ehemaligen Militärdiktatur, die sich wehmütig daran erinnern, dass man einstmals „dreckige Linke“ einfach aus fliegenden Flugzeugen werfen konnte. In seinen ersten Aktionen als Präsident hat er Streikrecht und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt und Sonderpolizei gegen Protestierende losgehetzt.

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„Ohne Sozialstaat kein florierender Kapitalismus“

Das soziale Netz schützt gegen Armut. Aber es stabilisiert auch die Wirtschaft, die Konjunktur, stützt unsere Gerechtigkeitsvorstellungen und sogar die Demokratie.

Arbeit & Wirtschaft, Dezember 2023

„Es ist nicht so“, sagt Katharina Mader, die Chefökonomin des „Momentum-Instituts“, „dass man eine florierende Wirtschaft für einen guten Sozialstaat braucht – sondern umgekehrt, dass man einen Sozialstaat für eine florierende Wirtschaft braucht.“ Das klingt im ersten Moment seltsam. Aber wenn man es genauer überlegt, dann steht die Tatsache recht klar vor Augen. Der Sozialstaat sorgt dafür, dass in Krisen nicht gleich die Nachfrage zusammenbricht, dass weniger Firmen in Insolvenzen rutschen, dass Belegschaften nicht sofort entlassen werden müssen. Und vieles mehr.

Auch die deutsche Wirtschaftsjournalistin und Bestsellerautorin Ulrike Herrmann formuliert ganz ähnlich: „Ohne Sozialstaat kann es den Kapitalismus gar nicht geben“, sagt sie. Zumindest keinen so erfolgreichen wie die prosperierenden, kapitalistischen Wohlfahrtsgesellschaften der vergangenen 120 Jahre. Das hängt auch damit zusammen, dass mit der kapitalistischen Wirtschaft eine Form von gesellschaftlicher Modernität einher ging. Herrmann: „Der Kapitalismus sprengt Familienbande. Die Menschen sollen mobil sein. Individualismus setzt sich durch, und damit auch das Modell der Kleinfamilie. Damit wurde das alte Sicherheitsnetz der Großfamilie zerstört, also brauchte es ein anderes Sicherheitsnetz.“ „Ohne Sozialstaat kein florierender Kapitalismus“ weiterlesen

Die große Einseitigkeit

Die Eskalation im Nahen Osten führt zu Fanatismus, Eiferertum und Cancel-Culture bisher unbekannten Ausmaßes.

Zackzack, Dezember 2023

In den vergangenen Wochen sorgte ein Propaganda-Clip für Erregung, bei dem eine ultrarechte Repräsentantenhaus-Abgeordnete drei Universitätspräsidentinnen aus den USA verhörte. Die Ausschussvorsitzende wollte die Präsidentinnen aufs Glatteis führen, ob denn Aufrufe zum Genozid an Juden gegen die Kriterien der Universität betreffend „Mobbing“ und „Belästigung“ verstoßen. Die Präsidentinnen haben vernünftigerweise ausweichend geantwortet, da echte Aufrufe zu einem Genozid ja möglichweise gegen diverse Regeln verstoßen, aber möglicherweise nicht gegen Regeln über „Belästigung“.

Zumal die energische Fragestellerin dann auch nachlegte, und gleich Parolen wie „Intifada“ als Aufrufe zum Genozid wertete. Die große Einseitigkeit weiterlesen

The Great Benko

Aufstieg und Fall des österreichischen Immoblientycoons – ein Lehrstück aus dem neoliberalen Blender- und Raubritter-Kapitalismus.

WOZ, Dezeber 2023.

Im Angeber-Kapitalismus gehen Erfolg und Hochstapelei häufig Hand in Hand wie Waldorf und Sattler. Österreich hat mit seinen globalen Vorzeigeunternehmern und Erfolgsinvestoren neuerdings freilich ein bisschen viel Pech. Die Österreicher Markus Braun und Jan Marsalek schienen mit Wirecard eine kolossale Unternehmensgeschichte aufgezogen zu haben, bis das Kartenhaus nicht nur eine fulminante Pleite hinlegte, sondern sich alles als Täuschung und mutmaßlicher Großbetrug entpuppte.

Jetzt ist der nächste imponierende Austro-Tycoon am Kollabieren.

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Ein Plädoyer für die Vernunft

In einer Zeit der Polykrisen helfen uns keine Radikalinskis, sondern nur Besonnenheit, Weitblick und Verstand.

Über unserem Land hängt eine Glocke schlechter Stimmung, eine Mischung aus Zukunftsangst, Wut und Frustration über das politische System, dem gar nichts mehr zugetraut wird. Das Unvermögen einer ganzen Abfolge von Regierenden ist dafür verantwortlich, auch der Hader, die Erregung, das permanente Skandalisieren in der Parteidemokratie. Viele Medien leisten auch ihren üblen Beitrag. Und ganz ignorieren sollte man auch nicht die Polykrisen, die in den vergangenen Jahren über uns hereingebrochen sind: Wirtschaftskrisen, die Pandemie, die Klimakatastrophe, die mittlerweile auch schon akut spürbar ist, dazu Krieg, Inflation und die Weltkrisen und der Machtverlust des einstmals dominierenden Westens. Dadurch haben viele Bürger und Bürgerinnen einfach das Gefühl eines Kontrollverlustes. Der Eindruck verstärkt sich: Die Politik hat die Dinge nicht mehr im Griff. Sie reagiert höchsten auf die aktuellsten Probleme. Ein Plädoyer für die Vernunft weiterlesen

Wird das Wohnen unleistbar?

Erst Goldgräberstimmung, jetzt Inflation: Die Wohnkosten wachsen vielen Menschen über den Kopf. Massive Investitionen in gemeinnützigen und sozialen Wohnbau sind jetzt ein Gebot der Stunde.

Arbeit & Wirtschaft, November 2023

Martin Orner hat es nicht weit von seinem neuen Büro im eben eröffneten Volkshilfe-Standort Sonnwendviertel zur „Mann“-Konditorei im Helmut-Zilk-Park in Favoriten. Bei der „Volkshilfe“ ist Orner heute für alle Immobilienfragen zuständig, von den eigenen Standorten bis zur Beschaffung von Notquartieren für Bedürftige. Früher war er einer der Geschäftsführer der EBG-Wohnbaugenossenschaft. Im Zilk-Park sprießen wilde Blumen, ein paar Schritte weiter jäten, gießen und pflanzen Anrainer im Urban-Gardening-Feld, Kids legen atemberaubende Balanceakte am „Motorik-Spielplatz“ hin. Ein ganzes neues Stadtviertel ist auf den ehemaligen ÖBB-Gründen entstanden.

Das „Sonnwendviertel Ost“, das bis hinüber Richtung Arsenal reicht, ist in den letzten Monaten endgültig fertig geworden. Hier stehen „Quartiershäuser“ mit variantenreichen Stilsprachen. Das etwas ältere „Sonnwendviertel West“ auf der anderen Seite des Parks besteht vor allem aus größeren Wohnblöcken, mit begrünten Innenhöfen, angelehnt an den architektonischen Spirit des Gemeindebaus des Roten Wiens, Ruheoasen nach Innen, Spielplätze, Gemeinschaftsräume. Ein Großteil davon gemeinnützige Genossenschaftsbauten, davon einige preisgekrönt und Magnet für Architekten-Reisegruppen aus aller Welt wie etwa das von der EBG miterrichtete „Wohnzimmer Wien“ mit seinen unterschiedlichen Formensprachen und spektakulären Übergängen zwischen den einzelnen Wohnquadern. Wird das Wohnen unleistbar? weiterlesen

Nach Westen, nach Westen

Ein Buch der Bücher: Karl Schlögels monumentale „American Matrix“ – zwischen Stahl, Technik, Mythen und Melderegister.

taz, Oktober 2023

Die Webers, so Karl Schlögel, „waren überwältigt vom ersten Augenblick an, in dem sie in New York angekommen waren“. Max und Marianne Weber, der große deutsche Soziologe und seine Ehefrau, bereisten 1904 für einige Monate die Vereinigten Staaten. Die beiden durchkreuzen in schnellem Tempo das Land, das schon ausreichend gut mit Verkehrswegen erschlossen ist. Sie treffen die Creme von Politik und Geisteswelt, am Soziologentag kommen europäische Größen mit legendären Figuren zusammen, wie W. E. B. Du Bois, dem ersten und für Jahrzehnte prägenden, großen schwarzen US-Intellektuellen. Weber wird ihn später den „bedeutendsten soziologischen Gelehrten“ nennen, „mit dem sich kein Weißer messen kann“. Weber macht einen Abstecher in das Indian Territory, an die „Frontier“ und bucht eine Führung durch die gigantischen Komplexe der Schlachthöfe von Chicago, ein Dantesches Inferno von Menschenschinderei, Ausbeutung und Tierverhäckselung. „Mit geradezu rasender Hast wird Alles, was der kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt“, staunt Weber und: Chicago ist „eine der unglaublichsten Städte“. Nach Westen, nach Westen weiterlesen

Wenn die ganze Welt verrückt wird

Es ist ein Gebot der Stunde: Die Vernunft hochhalten und den Konflikt mit jedem Dogmatismus, Fanatismus und autoritärem Irrwitz aufnehmen.

Zackzack, November 2023

Es gibt Zeitgenossen, die Petitionen unterschreiben, in denen Israel ein „siedlerkolonialistisches, rassistisches Projekt“ genannt wird, und Zeitgenossen, die diese Petitionen nicht unterschreiben, sondern möglichweise in den sozialen Netzwerken nur „liken“.

Es gibt auch viele Zeitgenossen, die ein Video eines Rechtsextremisten super finden, in denen behauptet wird, die Nazi-Killer von der SS hätten die Juden nicht mit Freude umgebracht, sondern sich dabei geschämt, weshalb die SS-Leute nicht so schlimm gewesen wären wie die Hamas, oder die die Meinung bekunden, wir sollen nicht so verzärtelt tun, in Hiroshima hat man auch einfach eine Atombombe abgeworfen, da fragte ja auch niemand, ob das unfair sei gegen unbeteiligten Zivilisten.

Welcher der beiden Typologien würde in Österreich oder Deutschland seinen Job verlieren, wenn man ihm auf die Schliche kommt? Mit einiger Sicherheit der erstere, mit ziemlich hoher Sicherheit zweiterer nicht. Wenn die ganze Welt verrückt wird weiterlesen

Israel, die Linken und der Krieg

Zwischen dem Antiimperialismus der dummen Kerle und kriegsgeilen Kiebitzen: Über die linken Verwicklungen mit Israel.

Zackzack, November 2023

Die wunderbare Stefanie Sargnagel hat unlängst einen ihrer Cartoons mit der Titelzeile versehen: „Jonas löst den Nahostkonflikt.“ Dabei sieht man einen jungen Mann, rücklings am Sofa, das Smartphone in der Hand, wie er eine – vermutlich – wichtige Meinung in Social Media schreibt. Wie immer bei guten Cartoons hatte die Zeichnung gleich mehrere Bedeutungsebenen. Sesselfurzer haben eine starke Meinung zu allen möglichen Weltkonflikten und schreien bei jeder Rakete „Hurra“. Sie nerven. Das trifft ins Schwarze. Man neigt dazu, laut aufzulachen und Sargnagels Kritik zuzustimmen. Aber zugleich spürte ich eine Reserviertheit. Ich fand den Cartoon gut und weniger gut zugleich. Aber warum? Weil es sehr nah an Provinzialismus schrammt, von der Art: Wir können hier bei uns sowieso nichts Sinnvolles beitragen, also ist es völlig unerheblich, sich überhaupt mit Geschehnissen anderswo zu beschäftigen, ganz egal ob in Ghana, Peru oder Israel. Das Sumpertum eben, für das man hier besonders anfällig ist. Israel, die Linken und der Krieg weiterlesen

Fanatiker sind immer die anderen

Selbst kleine Meinungsabweichungen werden heute schnell als „unmoralische“ Auffassungen verleumdet. Das ist eine gefährliche Sackgasse.

Vor ein paar Tagen bin ich bei der Frankfurter Buchmesse meinem Freund und Autorenkollegen Harald Welzer über dem Weg gelaufen. Wir haben uns lange nicht gesehen und uns über die Wiederbegegnung entsprechend gefreut. Wir haben uns umarmt und sind dann auf einen kleinen Tratsch auf die Terrasse am Rande der Messehalle gegangen und haben herumgealbert. Dazu muss man wissen, dass Harald in den vergangenen Jahren zu einer Reihe von Themen „problematische“ Meinungen vertreten hat. „Problematisch“ sind heute Meinungen meist dann, wenn jemand etwas meint, was man selbst gerade nicht meint. Wenn ich mich recht erinnere, ging es dabei primär um den Konflikt in der Ukraine.

Kurz davor habe ich auf einer der Messebühnen eine Debatte mit Ralf Stegner gehabt, der hat auch „problematische“ Meinungen zu einem oder zwei Themen, um die es aber bei der Debatte nicht ging. Fanatiker sind immer die anderen weiterlesen

Demokratie im Betrieb

Unternehmen mit guter Mitbestimmungskultur sind häufig erfolgreicher – die Belegschaft ist engagierter und identifiziert sich mehr mit der Firma.

Arbeit & Wirtschaft, Oktober 2023

„Führen ohne Chef“, so werden manche neuartige Organisationsmodelle in Unternehmen schon in Branchen- und Consultingportalen angepriesen. So rosarot und basisdemokratisch ist das dann natürlich in der Regel nicht, aber oft steigt das Betriebsklima merklich. Berater und Coaches legen autokratischen Kontrollfreaks daher längst nahe: „Loslassen lohnt sich!“

Botschaft: Chefs, schafft Euch ab!

En vogue ist heutzutage etwa das Führungskonzept der Holokratie. Anders als in hierarchischen Strukturen mit starren Abteilungen – Abteilungsleitern, Stellvertretern, Mitarbeitern – treten kreisförmige, flexible Strukturen, die sich auf wechselnde Aufgaben anpassen können. Mehr „Basisdemokratie“ und „Selbstorganisation“ verspricht das Organisationsmodell. Und eine für das Unternehmen günstige Anpassungsfähigkeit, die von den Beschäftigten weitgehend selbst erledigt wird.

Beispiel: Das Linzer Elektronikunternehmen KEBA. „Die Umstellung funktionierte fast reibungslos“, erzählt Betriebsratsvorsitzender Tom Metschitzer. „Der Betriebsrat war von Beginn an involviert. Ich hatte irgendwann sogar die Sorge: Habe ich etwas übersehen? So etwas kann doch nicht ohne Konflikte ablaufen!?“ Demokratie im Betrieb weiterlesen